Plötzlich floriert das US-Tennis«Was geht hier ab, Bro? Das ist crazy»
Frances Tiafoe und Taylor Fritz spielen um den ersten Finaleinzug eines Amerikaners an einem Grand Slam seit 2009. Vergessen sind die Niederlagen gegen die «Clowns».
Bei allen anderen hätte es einen Shitstorm gegeben. Nicht bei Frances Tiafoe. Selbst wenn er beleidigende Dinge sagt, hat er ein Lächeln auf dem Gesicht. Wie dieses Jahr in Wimbledon, als er sagte: «Tennis ist brutal. So viele Höhen und Tiefen. Vor exakt einem Jahr war ich die Nummer 10 der Welt, jetzt bin ich kaum mehr gesetzt und verliere gegen Clowns. Ich sage das nicht gern, aber ich bin jetzt einfach einmal offen.»
Clowns? Einige dieser Bezwinger, etwa Pedro Cachin, Emil Ruusuvuori, Lorenzo Sonego oder J.J. Wolf, dürften sich gefragt haben, ob er damit sie gemeint haben könnte. Und werden wohl nicht amüsiert gewesen sein. Aber in der Szene werden Tiafoes offene Worte mit einem Schmunzeln quittiert. Ihm kann man nichts übel nehmen. Auch nicht, wenn er seinem Finalbezwinger bei der Siegerzeremonie den Mittelfinger zeigt wie kürzlich Jannik Sinner in Cincinnati.
Vor den Augen Roger Federers
Inzwischen verliert Tiafoe nicht mehr gegen Clowns, sondern nur noch gegen die Besten. Wenn überhaupt. Am US Open zog er vor den Augen von Stargast Roger Federer mit einem Sieg über Grigor Dimitrov (ATP 9) in den Halbfinal ein. Zum zweiten Mal nach 2022. Damals hatte er den müden Rafael Nadal geschlagen und war im Halbfinal nur ganz knapp an Carlos Alcaraz gescheitert. Nun fordert er da seinen Landsmann Taylor Fritz (12).
Die US-Tennisfans sind ganz entzückt: Es ist der erste Grand-Slam-Halbfinal zweier amerikanischer Männer seit dem US Open 2005. Damals siegte Andre Agassi im Herbst seiner Karriere gegen Robby Ginepri, ehe er am jungen Federer scheiterte. Als letzter Amerikaner bestritt Andy Roddick in Wimbledon 2009 einen Grand-Slam-Final. Auch daran dürften sich Schweizer Tennisfans gern erinnern: Federer schlug Roddick 16:14 im fünften Satz und überholte mit seinem 15. Grand-Slam-Titel Pete Sampras.
Lange dominierten die USA das Männertennis mit Champions wie Jimmy Connors, John McEnroe, Jim Courier, Pete Sampras und Andre Agassi. Doch im Tennisland Nummer 1 ruhte man sich etwas zu sehr aus – und wurde prompt von Europa überholt. Roddick holte am US Open 2003 als letzter Amerikaner einen Grand-Slam-Titel, dann übernahmen die grossen drei – Federer, Nadal und Djokovic. Erst da überdachte der US-Tennisverband die Ausbildung und erkannte, wie wichtig etwa Sandplätze für die Entwicklung der Beinarbeit sind.
Tiafoe und Fritz waren zwei der Ersten, denen man wieder grosse Erfolge zutraute. Doch dann brausten plötzlich die jungen Alcaraz und Sinner an ihnen vorbei. Vor zwei Jahren stiess Tiafoe mit seinem Halbfinaleinzug in New York die Tür auf. Tommy Paul tat es ihm 2023 am Australian Open gleich, Ben Shelton am US Open.
Nun hat in New York auch Taylor Fritz den nächsten Schritt gemacht. Aus dem schlaksigen Kalifornier ist in den letzten Jahren ein Athlet geworden. Seine Popularität erfuhr durch seine Beziehung mit Morgan Riddle zusätzlichen Aufschwung. In New York gewann er nun gegen Alexander Zverev im fünften Versuch erstmals einen Grand-Slam-Viertelfinal.
Er bewies beim Viersatzsieg, dass sein Spiel nicht nur aus seinem krachenden Aufschlag und seiner Vorhand besteht, sondern er inzwischen auch längere Ballwechsel mitgehen und variieren kann.
Fürs US-Männertennis könnte das lange Warten auf einen Grand-Slam-Triumph am Sonntag ein Ende haben. Ein Amerikaner ist ja schon sicher im Final. Sie könnten als Persönlichkeiten unterschiedlicher nicht sein, sagte Tiafoe über Fritz und sich. Er sei «immer laut und manchmal unausstehlich», Fritz hingegen ein ganz ruhiger Typ. Ausser man provoziert ihn wie das Pariser Publikum am letztjährigen French Open, als er seinen rechten Zeigefinger an seine Lippen hielt, um den chauvinistischen Tennisfans zu bedeuten: Pssst!
Das wird in New York nicht nötig sein. Die Sympathien dürften im US-Halbfinal gegen Tiafoe brüderlich verteilt sein. Er liebe die Atmosphäre am US Open, schwärmt Tiafoe. «Es ist absolut verrückt, wenn du da draussen stehst. Du fragst dich: Was geht hier ab, Bro? Es ist crazy.»
Und wieder einmal ist der 26-Jährige brutal ehrlich: «Nichts spornt mich so an, wie in den Staaten zu spielen. Wenn ich in Madrid bin, beispielsweise, ist es einfach nicht das Gleiche. Ausserhalb der Staaten macht es mir nur noch in Wimbledon und Queen’s so richtig Spass.» Die Turnierdirektoren der anderen Events dürften es ihm verzeihen.
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