Tennisstar im Doping-ZwielichtDjokovic stichelt, Sinner kontert – doch das wahre Problem wird übersehen
Jannik Sinner kann trotz zwei positiven Proben weiterspielen. Das sorgt für Unmut in der Szene. Sein Fall aber zeigt: Die Dopingbekämpfung braucht neue Regeln.
Gerade noch war Jannik Sinner «Everybody’s Darling». Alle schwärmten von seiner Bodenständigkeit und seinem kraftvollen Spiel. Doch plötzlich ist alles anders, weil vor rund einer Woche seine positiven Dopingproben bekannt wurden – samt Freispruch.
«Ich werde ihm nicht mehr so freundlich begegnen wie vorher, wenn ich ihn in der Garderobe treffe», sagte Nick Kyrgios als Co-Kommentator auf ESPN. «Ich kann die Reaktionen der anderen Spieler nicht kontrollieren», konterte Sinner. «Wenn ich jemandem etwas zu sagen habe, teile ich es ihm direkt mit. Ich bin diese Art von Mensch.»
Während seines Erstrundenmatchs am US Open war ihm die Belastung nun anzusehen. Einen Satz lang stand er gegen Aussenseiter Mackenzie McDonald (ATP 140) völlig neben den Schuhen. Dann schaltete er in den Robotermodus und deklassierte den Amerikaner gnadenlos. Gesprächsthema aber bleibt die Nummer 1 der Welt natürlich.
Denn neben Kyrgios äusserten sich auch andere kritisch: Novak Djokovic stichelte, der Italiener habe allenfalls eine Sonderbehandlung erhalten. Sogar Carlos Alcaraz, der Sinner stets als seinen ultimativen Rivalen lobte, äusserte sich distanziert.
0,000000001 Gramm pro Milliliter
Oft wurden dabei Äpfel mit Birnen verglichen und Halbwahrheiten verbreitet, das Grundproblem im Fall Sinner allerdings wurde übersehen: Die Doping-Regeln hinken den immer besser werdenden Analysemethoden hinter.
Sinner zählte in New York all die Nullen nach dem Komma auf, um zu verdeutlichen, wie gering die Menge des anabolen Steroids Clostebol war, die in seinem Körper gefunden wurde: 0,000000001 Gramm pro Milliliter.
Die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada gibt ihren akkreditierten Labors Mindestmengen vor, die sie pro Substanzklasse messen können müssen. Bestimmte Labore können aber deutlich geringere Mengen aufspüren, weil ihre Geräte besser sind.
Das Pech von Sinner
Die gefundene Menge in Sinners Urin unterschritt gemäss Matthias Kamber, dem langjährigen früheren Chef von Antidoping Schweiz, ein Dreihundertstel dessen, was die Wada an detektierbarer Mindestmenge bei dieser Substanz vorgibt. Das heisst: Der Italiener hatte schlicht Pech, dass seine Urintests zwei positive Fälle auslösten. In welchem Labor sie untersucht wurden, wurde nicht publik gemacht.
Gemäss Kamber werden die Analysegeräte alle fünf bis zehn Jahre massiv besser. Mit der Folge, dass immer kleinere Mengen entdeckt werden. Die grosse Frage ist: Werden so Doper überführt, die mit Mikromengen betrügen, oder werden damit einfach immer mehr Fälle mit ungewollten Kontaminationen ausgelöst? Es sei darum höchste Zeit, die Regeln anzupassen, sagt Kamber.
Denn sie sind vielschichtig. Findet ein Labor Rückstände von Substanzen, die auf eine erlaubte medizinische Anwendung hindeuten, gilt ein Entscheidungsgrenzwert. Alles darunter ist erklärbar – bestimmte Asthmamittel gehören in diese Kategorie.
Die entscheidenden Nuancen
Bei Substanzen wiederum, die durch verunreinigte Lebensmittel in den Körper gelangt sind, gibt die Wada Grenzwerte vor, ab der eine Probe als atypisch bezeichnet wird. Weitere Abklärungen sind dann nötig, um zu entscheiden, ob daraus eine positive Probe wird und somit ein möglicher Verstoss gegen die Dopingregeln. Der Fall von Mountainbiker Mathias Flückiger ist so einer.
In die dritte Kategorie gehören Substanzen wie die meisten anabolen Steroide, die beim Entdecken stets als positive Probe gewertet werden, ganz egal, wie gering die gemessene Menge ist. Bei diesen Substanzen folgt automatisch eine provisorische Sperre. Dies war bei Sinner der Fall.
Vom Masseur in Sinners Körper
Die Anwälte des Italieners legten nach seinen positiven Dopingproben vom 10. und 18. März umgehend Berufung ein. Gemäss Sinner wusste sein Fitnesstrainer Umberto Ferrara sofort, woher die Kontamination stammte: vom Clostebol-haltigen Spray Trofodermin.
Er hatte den Spray dem Physiotherapeuten Giacomo Naldi gegeben, damit dieser während Indian Wells eine Schnittwunde am Finger pflegen konnte. Und während nun dieser Naldi den Tennisspieler behandelte, sei das Steroid in Sinners Körper gelangt.
Übertragung ist belegt
Das dreiköpfige Schiedsgericht, das über den Fall befand, erachtete diese Erklärung als plausibel und sprach Sinner von jeglicher Schuld frei. Doping-Rechercheur Hajo Seppelt konnte 2021 zeigen, dass sich gewisse Anabolika sehr wohl über Körperkontakt übertragen lassen. Was aber stutzig macht: Wieso kaufte sein Fitnesstrainer Ferrara diesen Spray und gab ihn an Naldi weiter, obschon er offenbar wusste, dass der Spray eine verbotene Substanz enthält? Diesen Punkt konnte Sinner nicht erhellen.
Italien ist das einzige europäische Land, welches das Wundheil-Arzneimittel mit Clostebol erlaubt. Das ist wohl auch der Grund, weshalb von 2019 bis 2023 nicht weniger als 38 italienische Athletinnen und Athleten positiv auf Clostebol getestet wurden. Ein ähnlich gelagerter Fall wie der von Sinner war jener des Basketballers Riccardo Moraschini, der erklärte, seine Freundin habe eine Wunde am Finger mit dem Spray behandelt und ihn durch Berührungen kontaminiert. Trotzdem wurde er für ein Jahr gesperrt, ehe er schliesslich freigesprochen wurde.
Fokus auf die harten Mittel
Um solche Fälle zu verhindern, schlägt Anti-Doping-Experte Kamber Regeländerungen vor: Alle Substanzen, die wie Clostebol automatisch eine positive Probe auslösen, sollten nur noch als atypisches Resultat gewertet werden (die Grenzwerte zur Erfüllung der Akkreditierungsvorschriften aber blieben bestehen). Darauf müssten weitere Abklärungen eingeleitet werden.
Erst wenn diese ergäben, dass ein Dopingszenario wahrscheinlich sei, würde aus dem atypischen Resultat ein positives. Es folgte wie im Fall Sinner dann die provisorische Sperre. Würden die Abklärungen hingegen auf eine Kontamination hindeuten, würde der Fall eingestellt – und die Öffentlichkeit nie davon erfahren. Es sei denn, die Athletin oder der Athlet würde von sich aus informieren.
Mit diesem Ansatz würden nicht nur die Messunterschiede der verschiedenen Labors ausgeglichen, sondern auch die unterschiedlichen Voraussetzungen der positiv getesteten Sportlerinnen und Sportler. Denn die wenigsten können sich wie Millionenverdiener Sinner ein Heer von hochdotierten Anwälten leisten. Und somit wäre auch der Vorwurf einer Sonderbehandlung, den Djokovic äusserte, aus der Welt geschafft.
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