Wirbel um Jannik Sinner«Das stinkt zum Himmel» – der Dopingfall der Nummer 1 bewegt das Tennis
Der 23-Jährige wird zweimal positiv auf ein anaboles Steroid getestet und doch nicht gesperrt. Warum? Wie reagieren die Gegner? Und droht ihm doch noch Ungemach? Die wichtigsten Antworten.
Worum geht es im Fall Jannik Sinner?
Am Dienstag wurde bekannt, dass der Italiener am 10. März bei einer Wettkampfkontrolle am Turnier in Indian Wells positiv auf das anabole Steroid Clostebol getestet wurde. Clostebol steht auf der Verbotsliste der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada). Ein weiterer Test acht Tage später ausserhalb eines Wettkampfs ergab ein ähnliches Ergebnis. Bei der ersten Probe wurde ein Wert von 76 Pikogramm pro Milliliter festgestellt. Die zweite Probe wies einen Wert von 86 Pikogramm auf. Das sind äusserst geringe Mengen. Ein Pikogramm entspricht dem Billionstel eines Gramms. Bei Verstössen dieser Art wird eine Sportlerin oder ein Sportler in der Regel mit einer vierjährigen Sperre bestraft.
Was ist Clostebol?
Clostebol kann den Muskelaufbau fördern oder den Erholungsprozess nach einem Training unterstützen, sodass Sportler härter trainieren können. Es ist auch in therapeutischen Cremes und Sprays enthalten, die in verschiedenen Ländern wie Italien rezeptfrei erhältlich sind.
Wieso wird Sinner nicht gesperrt?
Gemäss der International Tennis Integrity Agency (Itia), die nicht nur Dopingvergehen, sondern auch Wettbetrug untersucht, wurde Sinner zweimal kurz suspendiert: vom 4. bis 5. April und vom 17. bis 24. April – jeweils, nachdem der Südtiroler über seine positiven Dopingproben informiert worden war. Seine Anwälte legten beide Male innert 24 Stunden Berufung ein, der jeweils stattgeben wurde. Die Argumentation Sinners, wonach die Substanz nicht wissentlich in seinen Körper gelangt war, schätzte die Itia als plausibel ein. Am 15. August wurde gemäss Itia eine Anhörung einberufen, bei der ein unabhängiges Gericht festgestellt habe, «dass in dem Fall kein Verschulden oder keine Fahrlässigkeit vorlag, was zu keiner Sperre führte».
Wieso wurde der Fall erst jetzt öffentlich?
Kurz: Weil Sinners Anwälte beide Male sofort Berufung einlegten und damit durchkamen. Die Itia erklärt auf Anfrage: «Wenn bei einem Spieler ein Dopingbefund festgestellt wird, gibt es einen sehr sorgfältig geführten Prozess, um den Befund zu bestätigen, eine Untersuchung durchzuführen und dann die nächsten Schritte festzulegen. Sobald ein Fall abgeschlossen ist, geben wir ihn bekannt. In diesem Fall legte der Spieler beide Male erfolgreich Berufung gegen die vorläufigen Sperren bei einem unabhängigen Schiedsgericht ein. Wenn ein Einspruch erfolgreich ist, bleibt der Fall anonym. Wäre der Einspruch abgelehnt worden, wären die Fälle bekannt gegeben worden.»
Wie erklärt Sinner seine positiven Dopingtests?
Der 23-Jährige argumentiert, die Substanz sei über die Hände seines Physiotherapeuten Giacomo Naldi in seinen Körper gelangt. Dieser habe einen in Italien rezeptfreien Clostebol-haltigen Spray benutzt, um einen Schnitt an seinem Finger zu behandeln. Naldi hatte sich mit einem Skalpell, das er zur Behandlung von Blasen an Sinners Füssen benutzte, geschnitten. Darauf benutzte er den Spray (Trofodermin), um seine Wunde zu behandeln, überprüfte aber nicht, ob dieser Clostebol enthält. Der Physiotherapeut führte zwischen dem 5. und 13. März Massagen und Behandlungen an Sinner durch. In der Erklärung des Teams von Sinner heisst es: «Der Physiotherapeut hat Jannik behandelt, und seine mangelnde Sorgfalt in Verbindung mit verschiedenen offenen Wunden an Janniks Körper hat die Kontamination verursacht.»
Ist diese Erklärung glaubwürdig?
Die Itia und ein unabhängiges Schiedsgericht stufen sie als glaubwürdig ein. Zumal bei Sinner nur geringe Mengen an Clostebol nachgewiesen wurden. Anders sieht das der deutsche Dopingexperte Fritz Sörgel (74). Gegenüber dem Portal «Sport 1» sagte er: «Das stinkt zum Himmel. Auch wenn er (der Physio) ihn (Sinner) jeden Tag massiert, halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass das Clostebol in solchen Mengen durch die Haut eindringt, dass es im Dopingtest auffällt. Diese Methode der Ausrede, dass es über die Haut aufgenommen wird, wird in letzter Zeit verstärkt verwendet. Und das ist nun ein weiterer Fall.» Mittel mit Clostebol in bestimmten Konzentrationen hätten «schon eine Dopingwirkung», sagt Sörgel.
Wie reagieren die anderen Spieler?
Nie verlegen um klare Worte, schrieb der Australier Nick Kyrgios auf der Plattform X: «Lächerlich – ob das unabsichtlich war oder nicht: Wenn du zweimal positiv getestet wirst auf eine verbotene (steroide) Substanz, solltest du zwei Jahre gesperrt werden. Deine Leistung wurde dadurch verbessert. Massagecreme … Ja klar.»
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Der Kanadier Denis Shapovalov reklamierte auf X eine Sonderbehandlung Sinners: «Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich alle anderen Spielerinnen und Spieler fühlen müssen, die wegen kontaminierter Substanzen gesperrt wurden.» Der Franzose Lucas Pouille schrieb: «Man sollte aufhören, uns alle wie Idioten zu behandeln.» Von den Topspielern wie Novak Djokovic hat sich noch keiner geäussert.
Welche Folgen hat das für Sinner?
Ihm wurden die Punkte und das Preisgeld für das Erreichen des Halbfinals in Indian Wells aberkannt: 650 Punkte und 585’000 Dollar. Das kann er verschmerzen. Der Australian-Open-Sieger hat in diesem Jahr schon knapp sieben Millionen Dollar Preisgeld eingespielt und ist trotzdem die Nummer 1 der Weltrangliste. Grösser ist der Imageschaden, den er durch den Dopingfall erleidet. Bereits jetzt werden auf den sozialen Medien seine starken Leistungen in diesem Jahr hinterfragt.
Hat er noch weitere Sanktionen zu befürchten?
Ja. Die Wada kündigte auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur an, sie werde die Entscheidung der Itia «sorgfältig prüfen». Man behalte sich das Recht vor, gegebenenfalls Berufung beim Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne (CAS) einzulegen. Auch die italienische Anti-Doping-Agentur (Nado) kann gegen die Entscheidung Berufung einlegen. Sinner liess derweil in einer Medienmitteilung verlauten: «Ich werde jetzt diese herausfordernde und äusserst bedauerliche Zeit hinter mir lassen.» Wie sehr ihn der Fall belastet, wird man ab nächster Woche am US Open sehen, wo er als einer der Favoriten antritt. Vergangene Woche errang er, nachdem er die Olympischen Spiele in Paris wegen Unwohlsein ausgelassen hatte, den Masters-1000-Titel in Cincinnati.
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