Ukrainischer Soldat in Winterthur«Ohne Humor drehst du im Krieg durch»
Der ukrainische Soldat Wolodimir Tichoniuk besucht seinen Vater, der als Flüchtling in Winterthur lebt. Er erklärt, wie in der Armee Kriegsgräuel verdrängt werden – und wovor er Angst hat.
Wenn Wolodimir Tichoniuk in Winterthur den Lärm eines Flugzeugs hört, kommt er ins Stutzen. Das Dröhnen aus der Luft bedeutet in seiner Heimat: sich auf den Boden werfen, in den Bunker rennen, online den Luftalarm checken.
Tichoniuk ist Soldat in der ukrainischen Armee, die sich seit Februar 2022 gegen die russische Invasion wehrt. Der 30-Jährige arbeitet in einer Logistiktruppe. Er transportiert Nahrung und Waffen an die Front, hilft beim Aufbau von Militärbaracken und Feldküchen.
Die Mutter ist in der Ukraine geblieben
Die Armee gewährt ihm 30 Tage Ferien. Er nutzt die Zeit, um seinen Vater Mykola zu besuchen, der als politischer Flüchtling in Winterthur lebt. Zusammen mit einer anderen geflüchteten Ukrainerin lebt er in einer kleinen Wohnung in einem Aussenquarter in Winterthur. Die Mutter ist in der Ukraine geblieben, wo sie die Grossmutter pflegt.
Tichoniuk, olivgrüne Armeehose («ich brauche nicht viele Kleider»), hellbrauner Kapuzenpullover, sitzt an einem kleinen Schreibtisch und erzählt, wie er sich an die Schweiz gewöhnen muss. «Es ist speziell, so viele Leute draussen zu sehen, vor allem abends», sagt er. Der Soldat ist sich eine strikte Ausgangssperre ab 22 Uhr gewohnt.
Während Wolodimir Tichoniuk von seinem Alltag in der Armee erzählt, sitzt sein Vater neben ihm auf dem Bett und hört aufmerksam zu. In den Ferien teilen sich die beiden das kleine Zimmer. Die Stimmung ist locker, immer wieder lachen Vater und Sohn ausgiebig. Es ist das erste Mal, dass sie sich seit Kriegsausbruch wiedersehen.
Auch die Erzählungen des Soldaten wirken erst mal keineswegs bedrückend. Er lässt mehrmals durchblicken, dass in den Truppen ein spezieller, ein schwarzer Humor gepflegt wird (lesen Sie hier, was den ukrainischen Humor ausmacht).
«Ich bringe die Stinger-Raketen», rief er einmal einem Offizier zu, als er Waffen an die Front lieferte. Dabei transportierte er nicht die modernen US-Raketen, sondern viel schlechtere sowjetische Modelle. Der Mangel an modernem Kriegsgerät ist für die Ukraine auf dem Schlachtfeld das Hauptproblem – an der Front scherzt man darüber.
«Absurd – aber irgendwie auch lustig»
Tichoniuk erzählt, wie sich im Rekrutierungszentrum ein arabischstämmiger Migrant ohne ukrainischen Pass für die Armee einschreiben wollte und an der Bürokratie scheiterte. «Absurd – aber irgendwie auch lustig» sei das gewesen. Auf der Gegenseite hätte man wohl weniger Skrupel gehabt. Momentan rekrutiert die russische Armee auch inhaftierte Mörder direkt aus den Gefängnissen (lesen Sie hier, wie Zehntausende Russen aus den Gefängnissen an die Front geschickt werden).
Der Armeedienst, eine Art Abenteuer? «Ohne Humor», antwortet Wolodimir Tichoniuk, «drehst du im Krieg durch.» Soldaten erzählten sich Witze und absurde Szenen, um mit dem Kriegsgrauen umzugehen. Das gelte vor allem für die Soldaten, die an der Front kämpften. «Sie haben die Hölle gesehen», sagt er.
Der Gestank der verwesenden Leichen
Die Hölle: Tichoniuk lacht nicht mehr, als er die Szenen beschreibt, die aus Erich Maria Remarques Roman «Im Westen nichts Neues» stammen könnten: Soldaten, die nicht einschlafen können, weil sie von verwesenden Leichen umgeben sind, deren Gestank alles durchdringt. Kollegen, die Leichenteile von gefallenen Soldaten zusammensuchen, um sie den Angehörigen zu übergeben. Soldaten, die erblinden, ertauben, Gliedmassen verlieren. Mäuse und andere Nagetiere, die im eiskalten Winter in Gräben und Verstecke eindringen, Nahrung fressen und Krankheiten verbreiten.
Tichoniuk hat Angst, dass der Ukraine-Krieg in Vergessenheit gerät – und Russland dies ausnutzen wird. Ohne finanzielle Unterstützung und Waffen aus dem Ausland ist die ukrainische Armee den vielfach grösseren russischen Streitkräften unterlegen.
Der Soldat weiss, dass der Krieg in Gaza alle anderen Themen verdrängt. Und dass sich die Menschen im Westen nach fast zwei Jahren Krieg nicht mehr gross mit der Ukraine auseinandersetzen wollen. Doch der Soldat sagt: «Das Putin-Regime macht nicht bei der Ukraine halt. Wenn wir Russland nicht stoppen, werden andere Länder angegriffen.»
Der Vater will zurück in die Ukraine
Wäre er jünger, würde auch Vater Mykola Tichoniuk in der ukrainischen Armee kämpfen. Doch derzeit sei er in der Schweiz nützlicher, wo er andere ukrainische Flüchtlinge unterstützen könne. Von der Schweizer Bevölkerung spricht er in den höchsten Tönen. Viele hätten die Ukrainer unterstützt, etwa indem sie Flüchtlinge aufgenommen hätten. Seine Zukunft sieht er gleichwohl in seinem Heimatland. «Sobald wir den Krieg gewonnen haben, packe ich meine Sachen und kehre in die Ukraine zurück», sagt er.
Eher zurück geht es für Sohn Wolodimir. Zwei Tage nach dem Treffen wird er in einen Shuttlebus steigen, der mehrere Soldaten aus dem Westen zurück in die Ukraine fahren wird. Zurück in den Krieg, der immer mehr in Vergessenheit gerät.
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