Gegen Hilfen für die Ukraine Rechtspopulist Viktor Orbán schockiert die EU
Die Mitgliedsländer der Union schauen ungläubig zu, wie ihr Partner Ungarn die beiden wichtigsten Ukraine-Beschlüsse der kommenden Gipfelwoche sabotiert. Orbán fühlt sich nicht von ungefähr politisch im Aufwind.
Emojis wurden erfunden, damit man in einer Telefonnachricht mit einem Bildchen das sagen kann, wofür man sonst viele Wörter bräuchte. Das Emoji, mit dem ein EU-Mitarbeiter zu Wochenbeginn die Frage nach der Stimmung in Brüssel angesichts der ungarischen Drohung beantwortete, das für nächste Woche geplante Gipfeltreffen scheitern zu lassen, war ein kleiner gelber Kopf mit einem entsetzten Gesichtsausdruck. Die obere Hälfte des Kopfs war zersplittert, aus ihr wuchs ein Atompilz.
Nach den einschlägigen Listen ist dieses Symbol als das Exploding Head Emoji 🤯 bekannt. Es drückt, so steht es im Onlinelexikon Emojipedia, «Gefühle wie Schock, Überraschung und Ungläubigkeit» aus.
Das beschreibt die Lage in der EU recht gut: 26 Mitgliedsländer der Union schauen schockiert und ungläubig zu, wie der 27. Mitgliedstaat – ihr vermeintlicher Partner Ungarn – die beiden wichtigsten Beschlüsse sabotiert, die beim Gipfel kommende Woche getroffen werden sollen: die Aufnahme förmlicher Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine sowie die Freigabe von 50 Milliarden Euro an Hilfsgeldern, um das von Russland überfallene Land in den nächsten vier Jahren vor dem Kollaps zu bewahren.
Es droht ein Debakel
Sofern der ungarische Regierungschef Viktor Orbán nicht noch einlenkt, droht der EU ein Debakel: Statt das Jahr mit einem starken Signal der Solidarität mit der Ukraine zu beenden, wäre die Union gelähmt, ihre bisherige Geschlossenheit gegen Russland läge in Trümmern. Europas Unterstützung für Kiew stünde infrage – just in dem Moment, in dem auch in den USA die Hilfsbereitschaft ihr Ende erreicht zu haben scheint. Zusammengenommen wäre das ein veritabler Triumph für Moskau, sagt ein Diplomat in Brüssel.
Wie verfahren die Situation ist, zeigen einige Schriftstücke, die in den vergangenen Tagen in Brüssel kursierten. Da war zunächst ein Brief von Orbán an EU-Ratspräsident Charles Michel. Der Ungar – schon immer eher an der Seite Russlands als der Ukraine – stellte darin klar, dass er weder dem frischen Geld für Kiew noch den Aufnahmegesprächen zustimmen wolle. Trotzdem nahm Michel in den Entwurf für das Abschlussdokument des Gipfels den Satz auf, dass die EU-Regierungen «beschliessen, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu eröffnen». Orbán schickte daraufhin einen zweiten Brief mit der Aufforderung, diesen Passus wieder zu streichen.
Das wird Michel voraussichtlich nicht tun. Doch Orbán kann den Beschluss per Veto blockieren. Die grosse Frage in Brüssel ist im Moment: Wagt er das tatsächlich?
Ungarische Regierungsvertreter erzählen bei Treffen mit Journalisten, dass es keinen Raum für Kompromisse gebe.
Noch vor ein paar Tagen waren viele professionelle EU-Beobachter der Ansicht, dass Orbán schlicht pokert. Er werde einlenken, so die Theorie, wenn er zumindest einen Teil der etwa 30 Milliarden Euro an Brüsseler Zuschüssen bekomme, die Ungarn zustünden, deren Auszahlung die EU-Kommission aber wegen Rechtsstaatsverstössen und Korruptionsproblemen gesperrt habe. Mittlerweile heisst es in Brüssel, dass von dieser Summe 10 Milliarden Euro demnächst zur Überweisung an Budapest freigegeben würden, eventuell noch diese Woche. Trotzdem lässt Orbán keinerlei Bereitschaft erkennen, nachgeben zu wollen.
Im Gegenteil: Ungarische Regierungsvertreter erzählen bei Treffen mit Journalisten, dass es keinen Raum für Kompromisse gebe. Wenn die anderen 26 EU-Länder der Ukraine freiwillig 50 Milliarden Euro geben wollten, dann bitte, sagte am Montag Orbáns internationaler Sprecher und Spindoktor, Zoltán Kovács. Aber Budapest sehe keine Notwendigkeit, diese Hilfe aus dem offiziellen EU-Haushalt zu finanzieren. Das bedeutet: Der Topf, in den Ungarn seinen EU-Beitrag einzahlt und – noch wichtiger – aus dem es sein Geld aus Brüssel bekommt, soll nicht mit der Hilfe für die Ukraine belastet werden.
Nur «Wunschdenken» und «Schönrederei»
Ebenso kategorisch lehnt Ungarn die Aufnahme förmlicher Beitrittsverhandlungen mit Kiew ab, wie die EU-Kommission es empfohlen hat. Alles Nachdenken über die Aufnahme des Landes sei nur «Wunschdenken» und «Schönrederei», so Kovács. In Wahrheit sei die Ukraine ein riesiges, armes und korruptes Land, das sich zudem im Krieg befände – mithin «Lichtjahre» davon entfernt, EU-Mitglied zu werden. Mehr noch: Die gesamte europäische Ukraine-Strategie mit Waffenlieferungen, Sanktionen gegen Russland und einer Heranführung der Ukraine an die Union funktioniere nicht, sagt Kovács.
Tatsächlich werden einige dieser Bedenken auch von anderen EU-Regierungen geteilt. Dennoch sind ausser Ungarn alle Mitglieder der Union bereit, im Gipfel kommende Woche den grundsätzlichen politischen Beschluss zu fassen, dass Beitrittsgespräche beginnen sollten. Da die EU-Kommission vor der ersten Arbeitssitzung ohnehin noch einige Bedingungen erfüllt sehen will, wäre das kaum mehr als eine politische Geste des Beistands.
«Dieses Mal ist es nicht nur Orbáns übliche Erpressung», sagt ein Regierungsmitarbeiter. «Dieses Mal geht es ihm um mehr.»
Doch genau dieses Zeichen will Orbán offenbar verhindern. Der autokratische Rechtspopulist, so spekulieren Diplomaten, sehe sich in Europa im Aufwind, die Wahlsiege der Populisten Robert Fico und Geert Wilders in der Slowakei und den Niederlanden, die beide ebenfalls gegen mehr Hilfe für die Ukraine sind, hätten ihn gestärkt. Ebenso kann Orbán deutsche und amerikanische Wahlumfragen lesen. Er sieht die wachsende Beliebtheit der russlandfreundlichen AfD und der Wagenknecht-Partei. Und er schickt wohl nicht zufällig immer wieder Grüsse an Donald Trump, der ins Amt des US-Präsidenten zurückkehren könnte. «Dieses Mal ist es nicht nur Orbáns übliche Erpressung», sagt ein Regierungsmitarbeiter. «Dieses Mal geht es ihm um mehr.»
Orbán muss kaum jemanden fürchten
Zwar weisen Diplomaten darauf hin, dass Orbán – de facto der Alleinherrscher in Budapest, der weder die Opposition noch kritische Medien fürchten muss – seine Position noch ändern könne. Aber die Hoffnung im Rest der EU schwindet in gleichem Mass, wie die Frustration wächst. Europa habe keine Zeit für die ungarischen «Spielchen», schimpfte die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock am Dienstag bei einem Besuch in Slowenien öffentlich – ein Zeichen, wie gross die Wut über Orbán ist.
Dass der ungarische Premier sich von derartigen Zurechtweisungen beeindrucken lässt, ist zweifelhaft. Der EU-Mitarbeiter, der das Exploding Head Emoji verschickt hat, schätzte die Chance, dass Orbán den Gipfel scheitern lässt, vor einer Woche noch auf 90 Prozent. Am Dienstag erhöhte er auf 100 Prozent.
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