Journalismus im KriegUkrainische Medien beklagen sich über Selenski
Was an der Front oder im Land passiert, erfahren die Ukrainer fast nur von einer Quelle: ihrer Regierung. Medienleute kritisieren diese «einheitliche Informationspolitik».
Wolodimir Selenski will ein Mann des Volkes sein, einer von 44 Millionen Ukrainern. Deshalb spricht er auch am liebsten ganz direkt zu ihnen, über Telegram zum Beispiel, oder Facebook. Seit Russland am 24. Februar die Ukraine angegriffen hat, spricht der Präsident zum Volk, jeden Tag ein paar Minuten Motivation zum Durchhalten.
«Selenskis Problem ist schon seit Beginn seiner Präsidentschaft, dass er denkt, er brauche die traditionellen Medien nicht», sagt Andri Kowalenko, Geschäftsführer der Akademie der Ukrainischen Presse (AUP). In Kiew ist Luftalarm an diesem Abend, aber ihn bringt so etwas nicht mehr aus der Ruhe. Kowalenko hat seit Kriegsbeginn ausländischen Journalisten mit seinen Ortskenntnissen und Kontakten die Arbeit ermöglicht, mal an der Front, mal im Hinterland.
Spezielle Form der Krisenkommunikation
Es ist ein Krieg, dem die Medien in der Ukraine und im Ausland so viel Sendezeit, so viele Seiten widmen wie keinem Weltereignis seit langem. Der Spruch, im Krieg sterbe zuerst die Wahrheit, mag abgedroschen und selbst nicht unbedingt immer wahr sein. Doch auch in dieser Auseinandersetzung versuchen die beteiligten Parteien, ihre eigene Sicht auf die Dinge durchzusetzen.
Moskau hat ein eigenes Zensurgesetz für die angebliche «Spezialoperation» Russlands in der Ukraine entworfen. Die Massnahmen der ukrainischen Regierung sind damit in keiner Weise gleichzusetzen, doch auch sie ist mit dem Kriegsbeginn zu einer speziellen Form der Krisenkommunikation übergegangen.
In der TV-Dauersendung «Vereinte Nachrichten» ist immer wieder Selenski zu sehen.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer bekommen ihre Informationen über das, was an der Front und im Land passiert, fast nur noch von einer Quelle: ihrer Regierung. Die grössten Fernsehsender des Landes haben eine gemeinsame Senderstruktur organisiert. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche strahlen sie die gemeinsame Dauersendung «Vereinte Nachrichten» aus.
Dort bekommt das Publikum einen sehr regelmässig zu sehen: Selenski. Im März hat der Präsident auch noch ein Dekret unterzeichnet, das darauf abzielt, alle nationalen Fernsehsender zu vereinen. Denn: «Es ist wichtig, dass das Land eine einheitliche Informationspolitik verfolgt.» Soll heissen: Wenn möglich, nur noch offizielle Informationen. (Lesen Sie zum Thema das Interview mit einem ukrainischen Historiker: «Selenski macht gerade den perfekten Job».)
Die Zeitungen und Nachrichtenportale im Internet zitieren mittlerweile entweder die staatliche Nachrichtenagentur Ukrinform oder direkt Minister, Armeeangehörige oder lokale Offizielle. Oft finden sich zwischen Meldungen über Raketenangriffe oder Gegenschläge auch Heldengeschichten von Kindern, die für die Armee spenden, oder Katzen, die Bewohnern zerbombter Städte Trost spenden.
Andri Kowalenko von der Presseakademie versteht das, zumindest zum Teil. «Praktisch ist es im Krieg eben unmöglich, immer selbst ausführliche Informationen zu recherchieren.» Manchmal sei es zu gefährlich – und oft genug haben Journalisten keinen Zugang zu Gebieten, in denen es Angriffe oder Kämpfe gibt.
Für Kowalenko ist das zwar nachvollziehbar, wegen der Sicherheit der Kollegen. «Aber es muss allen klar sein, dass wir unserer Regierung im Krieg auch nicht alles glauben können.» Die Zahlen russischer Verluste beispielsweise liessen sich so exakt, wie die ukrainische Seite sie zu kennen behauptet, gar nicht feststellen.
Immerhin, sagt Kowalenko, auch wenn Selenski jetzt ein Kriegspräsident sei und einer solchen Rolle entsprechend auch geschönte Berichte verbreite und Erzählungen, die man durchaus unter Propaganda fassen könne – immerhin fingen er und seine Minister jetzt endlich an, sich Journalisten zu stellen.
Jetzt spricht Selenski regelmässig mit Reportern, wenn auch mit wenigen ausgewählten.
Vorher sei Selenski unter seinen Reporterkollegen berüchtigt gewesen dafür, mal monatelang gar keine Interviews zu geben – und dann plötzlich eine 12-Stunden-Medienkonferenz. Jetzt spricht er regelmässig mit Reportern, wenn auch mit wenigen ausgewählten, weil die Anfragen gerade wohl nicht eben wenige sind. Der Präsident liess sich jetzt im Krieg sogar wochenlang von einem Reporter des US-Magazins «Time» bei seiner Arbeit begleiten.
Die Journalistin Olga Rudenko wünscht sich trotzdem eine andere Informationspolitik. «Wenn sie meinen, sie müssten in so einer existenziellen Krise restriktiver sein mit dem, was sie rausgeben – von mir aus», sagt sie. «Aber dann sollen sie die Regeln wenigstens erklären.»
Nicht ein Mal habe sie gehört, dass wenigstens hinter verschlossenen Türen erläutert wurde, warum genau Journalisten etwa in den ersten Stunden nach einem Raketeneinschlag keine Details über den exakten Ort oder Bilder veröffentlichen sollen – weitere Raketen hinterherschiessen könnten die Russen ja auch nach dieser Frist noch.
Medien unter Einfluss von Regierung und Oligarchen
Rudenko findet, Selenskis Krisenkommunikation passe in ein Muster, das es schon seit seinem Wechsel aus der Unterhaltungsbranche in die Politik gebe: «Er kann mit Widerspruch nicht umgehen.» Rudenko und den Präsidenten verbindet, zumindest mittelbar, eine prägende Geschichte: Bis zum 8. November 2021 war sie stellvertretende Chefredaktorin bei der englischsprachigen Zeitung «Kyiv Post».
Ihr Team berichtete beständig über Korruption und Missstände – auch in Selenskis 2019 formierter Regierung. Im Herbst 2021 schrieben sie immer wieder über die von ihm eingesetzte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa, bis sich nach Angaben mehrerer «Post»-Mitarbeiter der Besitzer Adnan Kivan über «zunehmenden Druck aus der Regierung» beklagte – und die Zeitung am letzten 8. November schloss, um sie unter neuem Namen und mit weniger kritischen Inhalten wiederzueröffnen.
Rudenko und 29 Kollegen gründeten drei Tage später den «Kyiv Independent», um, wie der Name verrät, weiter unabhängig zu berichten. «Es gibt nur noch sehr wenige Redaktionen hier, die ganz ohne Einfluss der Regierung oder von Oligarchen, die wiederum mit der Regierung verbandelt sind, arbeiten können», sagt Rudenko. Selenski habe daran nicht das Geringste geändert. (Lesen Sie zum Ukraine-Krieg einen Gastbeitrag von «Kyiv Independent», der nach Russlands Invasionsbeginn erschienen ist: «Sanktioniert Russland jetzt!»)
«Ich fürchte, einige in unserer Regierung gewöhnen sich daran, dass sie nicht kritisiert werden.»
Beim «Kyiv Independent» haben sie kurz vor dem Krieg sogar mal in einem Artikel alle Vorfälle gesammelt, bei denen Selenski und seine Leute mit den Medien aneinandergeraten sind. Die Überschrift: «Wie Selenskis Regierung die Medienfreiheit in der Ukraine zu demontieren versucht.»
Nur, jetzt sei eben Krieg, und da sei allen Zwistigkeiten zum Trotz das Allerwichtigste, den russischen Angriff abzuwehren. Sie sagt: «We’re all in this together», was man höchstens inadäquat übersetzen kann mit: «Wir müssen jetzt zusammenhalten.» Auch wenn es ihr widerstrebt, dass unter den dafür ergriffenen Massnahmen die Medienvielfalt leiden mag. Was Rudenko aber besorgt, ist das Danach. «Ich fürchte, einige in unserer Regierung gewöhnen sich daran, dass sie nicht kritisiert werden.»
Und wie steht es um den Beissreflex der Journalistinnen und Journalisten, stumpft der auch ab? «Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir unserer Regierung alle Fragen stellen», sagt Rudenko. «Uns juckt es schon in den Fingern.»
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