Krieg in der UkraineWie Kiew mehr Soldaten mobilisieren will
Viele ukrainische Soldaten sind erschöpft, eine Ablösung ist nicht in Sicht. Nun soll ein neues Gesetz die Personalnot an der Front verringern.
General Juri Sodol kämpft seit 2014 gegen die russische Armee, als Moskau seinen Krieg im Osten der Ukraine begann. Zuletzt kommandierte der «Held der Ukraine» die Marinesturmtruppen, dann stieg der 53-Jährige zum Kommandanten der Vereinigten Streitkräfte auf. So hatten Sodols Worte besonderes Gewicht, als er begründete, warum das ukrainische Parlament eine Verschärfung des Mobilisierungsgesetzes beschliessen solle.
Die Ukraine steht unter Druck: «Der Feind ist uns zahlenmässig um das Sieben- bis Zehnfache überlegen, es mangelt uns an Personal», sagte Sodol. «In manchen Abteilungen haben wir zwei, in anderen drei oder vier Männer, wo acht bis zehn sein sollten.» Die Folge: Eine Brigade, die einen Frontabschnitt von 15 Kilometern gegen die russischen Angreifer verteidigen solle, könne faktisch höchstens 5 Kilometer halten. «Wir erhalten unsere Verteidigung mit letzter Kraft aufrecht», erklärte General Sodol im Parlament. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Dann muss die Ukraine weiter zurückweichen».)
Am Ende bekam der General, worum er gebeten hatte: 283 Parlamentarier – bei notwendigen 226 Stimmen – stimmten vergangene Woche für ein verschärftes Mobilisierungsgesetz, das mehr Männer an die Front bringen soll. Das Gesetz wird einen Monat nach der Unterschrift durch Präsident Wolodimir Selenski in Kraft treten. Die enormen Personalprobleme sind damit ebenso wenig gelöst wie der dramatische Mangel an Munition und Flugabwehrmunition.
Mehr Mobilisierung ohne klare Zahlen
Laut dem Londoner Institut für strategische Studien zählt die Ukraine 800’000 aktive Militärs, doch nicht einmal 300’000 waren laut einem Präsidentenberater an der Front. Gemäss Präsident Selenski sollen bis Februar 2024 rund 31’000 Ukrainer gefallen sein. Doch Indizien deuten darauf hin, dass es tatsächlich über 100’000 Tote und bis zu mehrere Hunderttausend Verletzte sein dürften.
Wegen des Personalmangels hatte im letzten Herbst der damalige Oberkommandierende Waleri Saluschni gefordert, eine halbe Million Männer einzuberufen. Schliesslich müssen neu Einberufene zunächst monatelang für einen Einsatz trainiert werden. Selenski indes schreckte davor zurück.
Ende 2023 sagte Selenski, er sehe bis anhin keine Notwendigkeit, eine halbe Million Männer einzuberufen – eine Aussage, die der neue militärische Oberkommandierende, General Olexander Sirski, vor kurzem bekräftigte.
Für nötige Rotationen fehlen neue Soldaten
Weder Selenski noch seine Militärs sagten jedoch, welche Zahl sie für notwendig halten. Auch das nun beschlossene Mobilisierungsgesetz schweigt dazu. Beschlossen wurden nur Massnahmen wie eine erneuerte Meldepflicht für wehrfähige Männer oder Sanktionsmöglichkeiten wie der Entzug des Führerscheins im Fall einer Wehrdienstverweigerung.
Vom jahrelangen Kampf erschöpfte Soldaten hatten gehofft, durch neu einberufene Soldaten abgelöst zu werden. Doch schon General Saluschni dämpfte Ende Dezember angesichts der kritischen Lage an der Front Hoffnungen darauf: Für umfassende Rotationen fehlten schlicht neue Soldaten.
Dieser Einsicht beugte sich auch sein Nachfolger Sirski: Auf seine Initiative wurde kurz vor der Annahme des neuen Mobilisierungsgesetzes eine Passage gestrichen, gemäss welcher Soldaten nach 36 Monaten Frontdienst hätten ausscheiden können. «Die Eskalation der russischen Eskalation geht weiter, die Offensive findet an der gesamten Front statt. Es ist unmöglich, die Verteidigungskräfte in diesem Moment zu schwächen», liess das Verteidigungsministerium verlauten.
Das sehen nicht nur die Ukrainer so. Christopher Cavoli, der kommandierende US-General in Europa, sagte im US-Repräsentantenhaus, die in der Ukraine kämpfende russische Armee habe nichts mehr «mit der chaotischen Truppe zu tun, die die Ukraine vor zwei Jahren angegriffen hat». Zudem fülle Russland seine Reihen viel schneller als erwartet. Allein im letzten Jahr habe Russland seine Fronttruppen von 360’000 auf 470’000 Mann gesteigert. Ausserdem will der Kreml laut Medienberichten in diesem Jahr 400’000 Soldaten einberufen.
Vor diesem Hintergrund könnte man erwarten, dass die Ukraine Männer mit allen verfügbaren Mitteln und in allen Altersklassen einberuft. Das aber ist bislang nicht der Fall. So werden in anderen Ländern junge Männer ab 18 Jahren an die Front geschickt. Die Ukraine aber hat nach den Kriegen des 20. Jahrhunderts und langer wirtschaftlicher Depression und folgenden Geburtenrückgängen sehr wenige junge Männer.
Selenski schreckte lange davor zurück, junge Ukrainer einzuberufen. Im Mai 2023 beschloss das Parlament, das Alter für frontfähige Ukrainer von 27 auf 25 Jahre zu senken. Selenski weigerte sich fast ein Jahr lang, das neue Gesetz zu unterschreiben – und tat dies erst Anfang April. Die Entscheidung könnte 150’000 junge Ukrainer an die Front bringen – doch erst nach ihrer Erfassung, der Untersuchung in den Wehrkommissionen und monatelangem Training. (Lesen Sie zum Thema auch den Kommentar «Junge Rekruten im Krieg – furchtbar, aber richtig».)
Mehrheit der Soldaten ist über 40 Jahre alt
Tatsächlich sind an der Front dienende ukrainische Soldaten heute meist über 40 Jahre alt. Doch auch in dieser Altersgruppe verzichteten Selenski und die Militärs bisher auf eigentlich naheliegende Massnahmen. In der Ukraine können Militärs, Polizisten, Staatsanwälte und andere Uniformierte teilweise schon mit 40 Jahren in Rente gehen – ein Überbleibsel aus sowjetischen Zeiten.
Laut der Parlamentarierin Galina Tretjakowa, die dem Ausschuss für Sozialpolitik und Veteranen vorsitzt, gibt es in der Ukraine über 200’000 derartige Militärrentner im wehrfähigen Alter zwischen 40 und 60 Jahren. «Diese Männer sind an der Waffe ausgebildet und sollten eigentlich an die Front», sagte die Parlamentarierin Julia Klimenko von der liberalen, zur Opposition zählenden Holos-Fraktion. Doch tatsächlich wurden bisher gerade 5410 Militärrentner eingezogen, so eine Auskunft des Generalstabs.
«Das Problem ist nicht ein schärferes Mobilisierungsgesetz», sagt Julia Klimenko. «Das Problem ist der Mangel an politischem Willen und einer klaren Strategie. Wie will man etwa Studenten und anderen jungen Ukrainern begründen, dass sie an die Front sollen, wenn etwa Hunderttausende geeignete Militärrentner nicht mobilisiert werden?»
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