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Beifall und Empörung in Deutschland
Mächtiger SPD-Politiker will den Krieg in der Ukraine «einfrieren»

ARCHIV - 16.01.2024, Berlin: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l) spricht mit Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, vor einer Fraktionssitzung ihrer Partei im Januar. (zu dpa: «Mützenich erhofft sich «sozialdemokratisches Wort» von Scholz») Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ (KEYSTONE/DPA/Kay Nietfeld)
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Es war nur ein Satz in einer achtminütigen Rede im Bundestag, aber er hallt seither wie Donner durch die deutsche Politik. Rolf Mützenich, wichtigster Mann der Sozialdemokraten im Bundestag, Mitglied des engsten Machtzirkels der Partei, sagte: «Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?»

Während die Regierungspartner der Grünen und der FDP bestürzt dasassen und die Christdemokraten sich empörten, klatschten viele Genossen – zusammen mit der Linken, der Wagenknecht-Partei und der AfD. In den Tagen danach schwoll die Kritik bei Grünen, FDP und Union mächtig an. Die grüne Aussenministerin Annalena Baerbock widersprach Mützenich genauso leidenschaftlich wie der sozialdemokratische Verteidigungsminister Boris Pistorius.

Mützenichs Defätismus sei infam, klagten Stimmen von der linken und von der rechten Mitte. Faktisch fordere er die Ukraine auf, zu kapitulieren und sich mit der Besetzung von Teilen ihres Staatsgebiets abzufinden. Und das zu einem Zeitpunkt, da Russland weniger Interesse an Verhandlungen habe denn je.

Mützenich, «der Chamberlain unserer Tage»

Die SPD habe nur so getan, als habe sie die «Zeitenwende» verstanden, die ihr Kanzler Olaf Scholz Ende Februar 2022 ausgerufen hatte, zeige mit Mützenichs Frage nun aber ihr wahres, altes Gesicht: als jene Partei, die mit Russland stets den Frieden und gute Geschäfte gesucht habe, gerne auch über die Interessen der kleineren Länder dazwischen hinweg. «Zeitenwende rückwärts», titelte der Berliner «Tagesspiegel».

Mützenich sei «der Chamberlain unserer Tage», kommentierte die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und zog die Parallele zur Appeasement-Politik jenes britischen Premiers, der verzweifelt Frieden mit Adolf Hitler gesucht hatte. Andri Melnik, der undiplomatische frühere Botschafter der Ukraine in Berlin, beschimpfte Mützenich auf X gar als «widerlichsten deutschen Politiker – für immer und ewig».

Vielleicht am schlimmsten für die SPD und für Mützenich war, dass der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder seinen Satz ausdrücklich lobte und seine Partei sowie seinen Nach-Nachfolger Scholz aufforderte, dessen Beispiel zu folgen und die Friedensavancen zu verstärken. Schröder ist bis heute ein persönlicher Freund Wladimir Putins und war bis zum Krieg dessen wichtigster Lobbyist in Europa. Seine Partei versuchte ihn deswegen erfolglos auszuschliessen.

Um der geballten Kritik entgegenzutreten, versuchte SPD-Chef Lars Klingbeil in der TV-Sendung von Caren Miosga, Mützenichs Satz zu erklären, ohne diesen zu blamieren. Zugleich bekräftigte er, dass weder der Fraktionschef noch der Kanzler noch die Partei sich von der Ukraine abwendeten – ganz im Gegenteil: Nur die USA hätten bislang mehr Waffen an Kiew geliefert als Deutschland. Und man werde diese Hilfe eher noch steigern als reduzieren.

Lars Klingbeil, Vitali Klitschko, Rolf Mützenich; Wladimir Klitschko

Der Streit um einen einzelnen Satz eines wichtigen Genossen könnte eine Posse sein, spiegelte er nicht die traditionelle Zerrissenheit der SPD in Fragen von Krieg und Frieden wieder – bis zurück in die Ära von Helmut Schmidt. Scholz, Pistorius und Klingbeil demonstrieren seit zwei Jahren in Wort und Tat, dass sie hinter die Zeitenwende nicht mehr zurückfallen wollen. In ihrer Partei aber gibt es noch viele Freunde des Friedens und Russlands, die mit Aufrüstung und Waffenhilfe weiter fremdeln.

Der Kanzler nahm stets Rücksicht auf diese Stimmen, auch auf jene ausserhalb der Partei, verzögerte die Lieferung neuer, mächtigerer Waffensysteme oder lehnte sie – wie beim Marschflugkörper Taurus – einstweilen ab. Dafür nahm er nicht nur die Kritik, ja Wut seiner Koalitionspartner in Kauf, sondern lobte im Gegenzug seine Vorsicht als Grund, dass bis heute zwei von drei Deutschen seinen Kurs mittrügen. Umfragen zeigen tatsächlich, dass viele Deutsche eine Eskalation des Kriegs so sehr fürchten wie eine Niederlage der Ukraine.

So, wie der Taurus zu einem Symbol der Scholz-Kritiker für die Frage geworden ist, ob die Regierung es mit der Unterstützung der Ukraine wirklich ernst meint, weckt Mützenichs Satz nun aber Zweifel am Durchhaltewillen der SPD. Ist sie wirklich bereit, alles zu tun, damit die Ukraine diesen Krieg nicht verliert? Oder gewinnen irgendwann jene Stimmen die Oberhand, die Kiew zu einem Frieden drängen?

Ein Mann von gestern, der einer von morgen sein muss

Sicher ist, dass Mützenich, anders als Schröder, weder als Putin-Freund noch als Lobbyist so spricht, sondern aus innerer Überzeugung. Der 64-Jährige ist sein Leben lang Pazifist gewesen, seine Doktorarbeit schrieb er über atomwaffenfreie Zonen, stets mahnte er, man müsse Moskaus legitime Sicherheitsbedürfnisse ernst nehmen, wolle man den Frieden in Europa langfristig sichern.

Mit Putins Überfall brach Mützenichs Weltsicht zusammen. Auf einmal musste er milliardenschwere Rüstungspakte und Waffenlieferungen durch den Bundestag bringen. Er tat es unter Schmerzen, aber klaglos. Nur selten nahm er sich noch heraus, über den Frieden nach dem Krieg zu sprechen – stets zum Ärger der Regierung.

Mützenichs Satz zum «Einfrieren» des Kriegs alarmiert nun all jene, die die SPD schon länger verdächtigen, sie wolle als «Friedenspartei» in die Wahlkämpfe 2024/25 ziehen und den «Taurus-Verweigerer» Scholz als Schröders Wiedergänger inszenieren. Dieser hatte sich 2002 dem Irak-Krieg der USA widersetzt und nicht zuletzt deswegen die Wahl gewonnen. Als «Friedenskanzler» würde Scholz freilich allem widersprechen, was er seit der Zeitenwende gesagt und getan hat.