Ukraine-Blog: Fotos, Fakes und FragenFrüher waren sie Maidan-Demonstranten, jetzt Soldaten
Ehemalige Maidan-Demonstranten erzählen, wie sich die Ukraine seit der Revolution 2014 verändert hat. Und sie sagen, wieso sie sich für die Front gemeldet haben.
Vor knapp zehn Jahren kämpften sie gegen Berkut, eine Spezialeinheit der damaligen prorussischen Regierung. Nun kämpfen sie an der Front gegen russische Soldaten. Es handelt sich um Ukrainer und Ukrainerinnen, die sich 2013 und 2014 auf dem Maidan in Kiew gegen die damalige Regierung auflehnten – und die seit 2022 ihr Land gegen Russland verteidigen.
Die ukrainische Zeitung «Kyiv Independent» sprach mit drei Ukrainern, die beides kennen. Die ehemaligen Maidan-Aktivisten erzählen von den Kämpfen von damals auf dem Unabhängigkeitsplatz sowie von den jetzigen Gefechten an der Front. «Wenn man nicht tote Menschen sieht, sondern Menschen, die umgebracht werden, verändert sich die Denkweise. Man bekommt eine andere Sicht auf die moderne Geschichte der Ukraine», erzählte Artem Chekh.
Über hundert tote Demonstrierende
Der Beginn der Maidan-Revolution hat sich im November zum zehnten Mal gejährt. Nachdem am 21. November 2013 Präsident Wiktor Janukowitsch ein Abkommen mit der EU – auf Druck aus Moskau – doch nicht unterschrieben hatte, kam es zu weitreichenden Protesten. Während mehrerer Tage versammelten sich vor allem junge Demonstrierende auf dem Maidan. Am 30. November 2013 ging Berkut, die Spezialeinheit des Innenministeriums, brutal gegen die Proteste vor. Zahlreiche Demonstranten und Demonstrantinnen wurden verprügelt.
Trotz Repressionen machten die Demonstrierenden während Wochen weiter – bis es Mitte Februar 2014 zur Gewalteskalation kam. Bei Strassenkämpfen in Kiew ermordeten Scharfschützen der Berkut mehr als hundert Menschen. Janukowitsch musste die Macht abgeben und floh nach Russland.
Das «Böse» sei im Land gewesen
Artem Chekh war vor der Maidan-Revolution keine politische Person, wie er dem «Kyiv Independent» erzählte. Er habe zwar gewusst, dass «das Böse in seinem Land war», aber er wusste nicht, wie er es bekämpfen sollte. Das änderte sich am 30. November 2013, als er und seine Frau sahen, wie junge Protestierende auf dem Maidan brutal zusammengeschlagen wurden. «Danach bekam die Revolution für mich und meine Familie eine ganz andere Bedeutung», sagte der heute 38-jährige Schriftsteller und Soldat.
Vor zehn Jahren entschloss er sich, auf dem Maidan zu bleiben – und er wurde Zeuge der Ermordungen von Demonstrierenden durch die Berkut im Februar 2014. «Du verstehst, dass es ein gewisser Rubikon ist. Und wenn du ihn überschritten hast, wird das Leben nicht mehr dasselbe sein wie vorher.»
Die Revolution hat Chekh gezeigt, wie geeint die Ukrainer in dunkelsten Zeiten sein können. Das habe ihm den «inneren Mut» gegeben, weiterzukämpfen. 2015 schloss er sich schliesslich der ukrainischen Armee an und kämpfte fast ein Jahr lang im Gebiet Luhansk gegen die russischen Streitkräfte.
«Es war die schwerste Zeit meines Lebens.»
Als Russland im Februar 2022 über die Ukraine herfiel, war Chekh sofort klar, dass er erneut in den Krieg muss – und meldete sich bei der Armee. Er kämpfte unter anderem in Bachmut. Dort habe er in 15 Minuten mehr Artillerieeinschläge erlebt als 2015 im Gebiet Donezk während zehn Monaten.
Er verbrachte fünf Tage in einem winzigen Graben am Rande von Bachmut, umgeben von Leichen, wo er «auf seinen Tod» gewartet habe. «Es war die schwerste Zeit meines Lebens», sagte Chekh dem «Kiyv Independent». Heute dient er weiterhin in der Armee: Wo und in welcher Funktion, sagt er nicht.
Kugeln schlugen über seinem Kopf ein
Auch der Fotograf Artur Nazarov war 2013 nach Kiew gegangen, nachdem er von den Demonstrationen auf dem Maidan erfahren hatte. Er schloss sich den Revolutionären und Revolutionärinnen an und blieb auf dem Maidan.
Er war ebenfalls dort, als die Gewalt Mitte Februar 2014 eskalierte: Nazarov fotografierte Scharfschützen, die auf Demonstranten schossen. Dabei wurde er selbst fast getroffen: «Ein paar Kugeln schlugen direkt über meinem Kopf in einen Baum ein», sagte der heute 33-jährige Nazarov dem «Kiyv Independent».
«Ich verstand, dass ich meine Rechte verteidigte, dass ich für das eintrat, was man mir wegnehmen wollte.» Auch Nazarov schloss sich der ukrainischen Armee an und kämpfte in den Jahren 2014 und 2015 in der Region Donezk. Nach dem Überfall Russlands im Februar 2022 meldete sich Nazarov erneut für den Militärdienst an und kämpfte im Gebiet Charkiw. Er leistet weiterhin Dienst.
Einige sind an der Front gestorben
Viele weitere ehemalige Maidan-Aktivisten sind inzwischen im Krieg gegen Russland gestorben. Der «Kyiv Independent» berichtete zum Beispiel über den bekannten Aktivisten Roman Ratushnyi. Der damalige Schüler war 16 Jahre alt, als er sich auf dem Maidan gegen die Regierung und die Polizei auflehnte.
In einem Interview von 2018 sagte er dem unabhängigen ukrainischen Medium «Hromadske», dass er «eine grosse Anzahl positiver Veränderungen im Land» wahrnehme: «Ohne den Maidan, ohne echten Widerstand gegen die damalige Regierung, wären diese Veränderungen nicht eingetreten.»
Als Russland die ganze Ukraine angegriffen hat, schloss sich Ratushnyi als Freiwilliger der Armee an. Für sie führte er seinen letzten Kampf: Am 9. Juni starb er bei einem Gefecht in der Nähe von Charkiw. Er wurde 24 Jahre alt.
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