Analyse zum EuromaidanDiese Revolution ist noch lange nicht zu Ende
Vor zehn Jahren begannen in Kiew die Proteste gegen die prorussische Regierung. Letztlich ist Putins Krieg die Antwort darauf. Der Westen scheint das vergessen zu haben.
Jahrestage werden meist auf symbolische Daten gelegt: auf den Tag der Kapitulationserklärung am Ende eines Krieges. Oder auf den Tag, an dem die ersten Panzer einer Besatzungsmacht in fremde Städte rollten.
In der Ukraine wurde in dieser Woche der Beginn des Euromaidan vor zehn Jahren gefeiert. Am 21. November 2013 hatte der prorussische Präsident Viktor Janukowitsch die vage europäische Zukunft des Landes mit der Absage des EU-Assoziierungsabkommens torpediert. Kurz danach versammelten sich überwiegend junge, empörte Demonstranten auf dem Platz der Unabhängigkeit.
Doch die Geburt der Revolution fand an einem späteren Datum statt. Sie fällt auf die Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember 2013. Damals liess das prorussische Regime – aus Angst um sein Überleben und aus Sorge davor, dass sich Widerstandsgeist und Freiheitswille wie ein Virus ausbreiten könnten – die Protestierenden von der Berkut, einer Spezialeinheit des Innenministeriums, brutal zusammenknüppeln.
Der Euromaidan wurde zu einer Art alternativer Gemeinschaft, die parallel zu staatlichen Strukturen funktionierte.
Die Erkenntnis, dass man auf dem Maidan womöglich würde sterben müssen für seine Überzeugungen – das war der Funke, der aus dem Aufstand eine Revolution machte. Eltern solidarisierten sich mit ihren Kindern, Alte mit Jungen, Rentner mit Studenten, Bauern mit Akademikern. Der Euromaidan wurde zu einer Polis, einer Art alternativer Gemeinschaft, die parallel zu staatlichen Strukturen funktionierte. Hier sei, schreibt die US-amerikanische Historikerin Marci Shore, das «Laboratorium eines neuen Gesellschaftsvertrags» entstanden.
Wladimir Putin im fernen Moskau und sein Exekutor Janukowitsch in Kiew hatten sich grundlegend getäuscht. Sie hatten geglaubt, das Recht des Staates als Recht des Stärkeren missbrauchen und fundamentale Menschenrechte missachten zu können. Und damit überhaupt erst die Saat gesät für das, was das Regime in Moskau mittlerweile mit einem grossen Krieg niederzuringen versucht: den Kampf für das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes.
Die Historikerin Marci Shore schreibt, die Ukrainer seien damals über sich hinausgewachsen.
Selbstbestimmungsrecht – das klingt so lange pathetisch und wie ein Traum aus Lehrbüchern von Völkerrechtlern, bis eine fremde Macht mit Panzern in fremde Städte rollt. Der 24. Februar 2022 ist die Antwort auf den auch im Westen gefeierten und euphorisch begleiteten Euromaidan. Für Putin ist er die logische Fortsetzung der «Diktatorengesetze», die Kiew im Januar 2014 auf Drängen Moskaus erliess und mit denen alle Demonstranten für vogelfrei erklärt wurden. Für die Ukrainer wiederum ist der Angriff der russischen Armee die Fortsetzung des Massakers vom Februar 2014, als Scharfschützen der Berkut auf dem Maidan mehr als hundert Menschen mit Kopfschüssen ermordeten. Und was ist der Maidan für den Westen?
Eine Zeit lang jubelten die Europäer den Ukrainern für ihre Opfer dankbar zu. Aber ausserhalb der Ukraine verblasst die Revolution im Osten Europas zu einer romantischen Erinnerung, und zugleich wächst die Bereitschaft, die Ukrainer Putin zum Schluss doch noch auszuliefern. Der hat das vielleicht schon 2014 geahnt und den Einsatz stetig erhöht. Die Historikerin Marci Shore schreibt zum Jahrestag auch, die Ukrainer seien damals über sich hinausgewachsen und täten es noch heute. Das gilt für ihre Bewunderer im Westen nicht.
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