TV-Kritik «Tatort»Wie ein Nazi-Ermittler die US-Invasion rettete
Der Wiesbaden-«Tatort» geht auch diesmal eigene Wege und macht einen Zeitsprung in Deutschlands braune Jahre. Der starke Ulrich Tukur reisst die Sache in jedem Sinn heraus.
Kommissar Murot (Ulrich Tukur) hat Adolf Hitler schon mal erschossen: In «Murot und das Paradies» hat er die Welt in einem fantasmagorischen Ritt von dem Diktator befreit. In der neuen Folge «Murot und das 1000-jährige Reich» stellt Tukurs LKA-Kommissar zumindest sicher, dass die amerikanischen Invasionspläne von 1944 nicht den Nazis in die Hände fallen – allerdings nicht als Murot, sondern als sein Alter Ego: als der von den Nazis geschätzte Sonderermittler Rother. Der Experimental-«Tatort» aus Hessen hat sich erneut einem Zeitschleifen-Dreh verschrieben, samt Identitätsverschiebungen.
Hier also Murot, der einen greisen Nazitäter, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beging, endlich festnehmen und vor Gericht bringen kann; da Rother (ebenfalls Tukur), der sich 1944 heimlich gegen das Naziregime wendet und schliesslich vom eigenen Adjutanten ausgeschaltet wird. Dieser lebt später ungestört in Argentinien, wird aber, so schliesst sich der Kreis, im Finale am deutschen Flughafen von Murot abgeführt.
Ulrich Tukur hat in seiner Laufbahn immer wieder Figuren aus der braunen Geschichte Deutschlands verkörpert: Direkt nach der Schauspielschule spielte Tukur in Peter Zadeks aufsehenerregender «Ghetto»-Inszenierung den kunstsinnig-blutrünstigen SS-Offizier Kittel, später in der Verfilmung von «Der Stellvertreter» den SS-Obersturmführer Kurt Gerstein und, nicht zuletzt, Erwin Rommel im TV-Biopic «Rommel». Nun zeigt er uns überzeugend einen längst kriegs- und Nazi-müden Sonderermittler. Dieser versucht, seinen brutalen Adjutanten Strelow (Ludwig Simon) zu zügeln und Unschuldige zu retten wie etwa den «Dorfdeppen» und andere, die bewusst oder unabsichtlich Sand ins Getriebe der Nazimaschinerie streuen.
Auch eine Jüdin ist darunter: Else als Pendant zu Murots Assistentin Magda – eine starke Barbara Philipp. Sie wirft Rother allerdings vor, dass er sich jetzt, am Ende des 1000-jährigen Reichs, bloss Pluspunkte sichern will für die Zeit «danach». – Ganz klar kein Stoff für glückliche «Danachs» und Happy Ends, was die Drehbuchautoren Michael Proehl und Dirk Morgenstern da stemmen.
Eigentlich ist der gesamte Film rund um Rothers Prophezeiung gegenüber Strelow aufgezogen: «Eines Tages werden Sie für Ihre Taten zur Rechenschaft gezogen.» Doch im Grunde ist die Chose mit der Festnahme in der Gegenwart ein nur schwacher Rahmen um die mehr oder weniger geradlinig durcherzählte Geschichte über eine ungesunde Dorfgemeinschaft in der Nazizeit.
Regisseur und Co-Autor Matthias X. Oberg schiebt zwar bisweilen angestrengt surreal anmutende Elemente dazwischen; und über die Personen sind die zwei Zeitebenen sowieso unauflöslich verwoben. Im Vordergrund steht aber die Visite einer Vergangenheit, in der die Verhältnisse das Schlimmste oder das Beste in den Menschen zutage förderten. Der Kriminalfall als solcher spielt nicht die Hauptrolle. Diese hat, ohne Wenn und Aber, der umwerfende Ulrich Tukur inne.
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