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Repression in der Türkei
Er hat Erdogan mit einem schönen Satz eine Nieder­lage zugefügt – jetzt sitzt er im Gefängnis

Zwei Männer stehen lächelnd nebeneinander in einem formellen Raum mit einem gerahmten Bild und einer roten Fahne im Hintergrund.
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In Kürze:
  • Seit Beginn der landesweiten Proteste haben die türkischen Behörden fast 2000 Menschen festgenommen.
  • Istanbuls Bürgermeister Imamoglu sitzt wegen angeblicher Korruption in Untersuchungshaft.
  • Die Opposition fordert baldige Neuwahlen.

Grosse Autokraten haben grosse Kerker. Etwa eine Autostunde westlich von Istanbul liegt das Hochsicherheitsgefängnis Silivri. Es ist eine der grössten Haftanstalten Europas. Eröffnet wurde es 2008, nur wenige Jahre nachdem Recep Tayyip Erdogan an die Macht gekommen war.

Seither sitzen hier Schriftsteller, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, Oppositionspolitiker und Kurden. Sie alle haben es gewagt, die zunehmend ruchlose Herrschaft von Präsident Erdogan anzuprangern. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem «Internierungslager».

Fadenscheinige Vorwürfe gegen Berkay Gezgin

Seit Ende März gehört Berkay Gezgin zu den 100 Studierenden, die nach Silivri gebracht wurden. Der 21-Jährige ist landesweit bekannt, weil er gegen Erdogans Repressionsapparat auf die Strasse geht, in den sozialen Medien protestiert und den politischen Widerstand organisiert. Gezgin soll gegen das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz verstossen haben. Er wurde beim Verlassen des Istanbuler Rathauses von Sonderpolizisten verhaftet.

Ein Demonstrant schwenkt eine türkische Flagge vor Bereitschaftspolizisten während einer Kundgebung in Istanbul, 24. März 2025.

Bis vor drei Wochen war dort der populäre Bürgermeister Ekrem Imamoglu im Amt. Nicht ganz unerwartet liess ihn die türkische Justiz verhaften – unter fadenscheinigen Vorwürfen, um Erdogan einen grossen Rivalen aus dem Weg zu räumen. Imamoglu und mehreren Beamten aus seinem Umfeld wird Korruption vorgeworfen. Er soll zudem «Anführer einer kriminellen Organisation» sein. Und Kontakte zur verbotenen Kurdenpartei PKK unterhalten haben.

Gleichzeitig hatte die Universität Istanbul dem Bürgermeister sein Diplom aberkannt. Wer in der Türkei Staatschef werden möchte, braucht einen akademischen Abschluss. All diese Willkürmassnahmen, so die türkische Opposition, hätten nur ein Ziel: eine Präsidentschaftskandidatur Imamoglus zu verhindern. In Umfragen schneidet er deutlich besser ab als Erdogan. Die nächsten regulären Wahlen finden zwar erst 2028 statt, doch der Autokrat will nichts dem Zufall überlassen.

«Alles wird gut» als Wahlslogan gegen Erdogan

Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass nun sowohl Imamoglu als auch der Student Gezgin im Gefängnis von Silivri sitzen. Die beiden kennen sich bestens. Bei den Istanbuler Bürgermeisterwahlen 2019 rief Gezgin dem Hoffnungsträger einen scheinbar einfachen Satz zu: «Alles wird gut.» Die Worte eines Teenagers mit Zahnspange wurden plötzlich zum schlagkräftigen Wahlslogan.

Imamoglu, Kandidat der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), gewann daraufhin das Rennen um das Bürgermeisteramt der grössten und wichtigsten Metropole der Türkei. Eine Künstlerin vertonte den Spruch von Gezgin, die Fans des Fussballclubs Besiktas Istanbul nahmen ihn in ihre Gesänge auf, und Street-Art-Künstler verewigten die Worte «Alles wird gut» auf Hauswänden.

Erdogan spricht von Sabotage

Erdogans AKP-Partei liess die Wahl Imamoglus annullieren. Der CHP-Politiker ging aus der Wiederholung des Urnengangs noch deutlicher als Sieger hervor. «Wer auch immer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei», hatte der verunsicherte Erdogan damals vorausgesagt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gibt nach der Kabinettssitzung in Ankara am 14. Dezember 2020 eine Erklärung ab.

Die Verhaftung von Imamoglu hat unter den Anhängern der türkischen Opposition grosse Empörung ausgelöst. In den letzten Wochen haben in mehreren Städten Hunderttausende Menschen protestiert. Ausserdem wurden die Türkinnen und Türken aufgerufen, Lebensmittelgeschäfte, Warenhäuser, Cafés und Tankstellen zu boykottieren, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Erdogan spricht von Sabotage und droht seinen Kritikern mit der Justiz. In einem Gastbeitrag in der «New York Times» bezeichnete Imamoglu die Türkei als «Republik der Angst».

Seine Verhaftung bedeute, dass das Land in eine neue Phase des Autoritarismus eintrete. Wie der verhaftete Bürgermeister bleibt auch der Student Berkay Gezgin standhaft. Er schrieb aus dem Gefängnis: «Solange wir zusammen sind, wird alles schön sein.» Sein Anwalt sagte im britischen «Guardian», die Behörden «wussten, wen sie verhafteten und dass er viel Unterstützung von Jugendlichen hat».

Staatsmedien schweigen

Nach Angaben des Innenministeriums wurden seit Beginn der Proteste fast 2000 Menschen festgenommen. Vor dem Gefängnis in Silivri warten in diesen Tagen Eltern von Studierenden auf Einlass. Erdogan warnte die Familien auf der Plattform X, sie dürften ihren Kindern nicht erlauben, für die «düsteren Pläne krimineller Organisationen missbraucht zu werden». In den regierungsnahen Medien werden die Massenproteste bislang totgeschwiegen, oppositionelle und westliche Journalisten sind Repressalien ausgesetzt. Im internationalen Index der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 165 von 180 Ländern.

Nach dem brutalen Vorgehen der Polizei gegen die Demonstrierenden im ganzen Land haben sich die Proteste von der Strasse in die sozialen Medien verlagert. CHP-Chef Özgür Özel, der am Wochenende im Amt bestätigt wurde, will bis im Herbst Neuwahlen erzwingen. Doch bis dahin scheint es noch ein weiter Weg zu sein. Und es ist unklar, wer gegen Erdogan antreten könnte. Denn sein Rivale Imamoglu dürfte seine Zelle in Silivri so schnell nicht verlassen.