Demonstrationen in der TürkeiErdogan ist ein Schurke, aber er ist Europas Schurke
In Brüssel herrscht lautes Schweigen, wenn es um die türkische Demokratie geht. Aus Gründen, die oft Realpolitik genannt werden.

Ursula von der Leyen verwendet, wenn sie von der Weltpolitik spricht, häufig den Begriff «transaktional». Das klingt arg theoretisch, die Präsidentin der EU-Kommission könnte auch sagen: Werte und Normen, wie sie die Europäische Union in internationalen Beziehungen früher gerne predigte, haben keine grosse Bedeutung mehr – Weltpolitik funktioniert jetzt nach dem Prinzip «Eine Hand wäscht die andere».
Deshalb kann die EU auch nicht mehr allzu wählerisch sein, wenn es um ihre Partner geht. US-Präsident Franklin D. Roosevelt sagte einst über einen südamerikanischen Diktator: Er mag ein Schurke sein – aber Hauptsache, er ist unser Schurke. In Abwandlung des berühmten Spruchs ist Recep Tayyip Erdogan aus europäischer Sicht jetzt «unser Schurke».
In einer idealen Welt würde die EU nun Sanktionen verhängen gegen einen türkischen Staatschef, der den Präsidentschaftskandidaten der Opposition einsperren lässt. Sie würde sich solidarisch erklären mit den Hunderttausenden, die für eine demokratische Türkei demonstrieren. In der Trump-Welt glaubt die EU jedoch, auf Erdogan nicht verzichten zu können. Deshalb reagiert sie auf ihn vorwiegend mit Schweigen.
Man braucht Erdogan als Partner
Erdogan hat das Schicksal Syriens in seinen Händen und gilt deshalb als strategischer Partner in der Flüchtlingspolitik. Vor allem aber spielt er eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, eine europäische Sicherheitsarchitektur ohne die USA zu bauen. Er gebietet über die zweitgrösste Armee der Nato und verfügt über eine moderne Rüstungsindustrie. Vor der Verhaftung von Ekrem Imamoglu bot die EU der Türkei Kredite aus ihrem Aufrüstungsprogramm an. Auch beim Ringen um Frieden in der Ukraine soll Erdogan der EU helfen.
Gegenüber dem starken Mann in Ankara sei stille Diplomatie wirkungsvoller als lauter Protest, heisst es in Brüssel oft. Diese Diplomatie ist aber so still geworden, dass man nicht mehr weiss, ob es sie in Fragen von Demokratie und Menschenrechten überhaupt noch gibt. Die Menschen, die auf den türkischen Strassen für ihre Freiheit kämpfen, haben von der EU wenig zu erwarten. Das ist aus moralischer Sicht beklagenswert, aber Aussenpolitik war noch nie eine Sache für moralische Menschen.
Eine wertegeleitete Aussenpolitik, die sich Demokratie und Menschenrechten verpflichtet fühlt, stösst an ihre natürlichen Grenzen in Krisen, die nicht allein durch Allianzen von gleichgesinnten demokratischen Staaten zu bewältigen sind. Das gilt umso mehr für die aktuelle Grosskrise, die die EU in ihren Grundfesten erschüttert.
Europäische Union bleibt kleinlaut
Ohnehin gilt die EU in vielen Staaten des globalen Südens als Grossmacht der Doppelmoral. Das hat viel mit dem Gazakonflikt zu tun, wo die EU im Ruf steht, andere Massstäbe anzuwenden als in der Ukraine. In solchen Ländern wird auch genau registriert, dass nicht nur in der Türkei des Recep Tayyip Erdogan gerade ein aussichtsreicher Bewerber um das Präsidentenamt von der Justiz aus dem Verkehr gezogen wird – sondern auch in den EU-Staaten Frankreich und Rumänien.
Selbstverständlich wäre es absurd, die französische oder auch die rumänische Justiz mit der türkischen gleichzusetzen und zu unterstellen, sie würden im Auftrag der Politik die Bewerber Calin Georgescu und Marine Le Pen verfolgen. Aber eine Werbung für das liberale europäische Demokratiemodell sind die beiden Fälle nicht. Auch das ist wohl ein Grund, warum die Brüsseler Politik derzeit so kleinlaut wirkt gegenüber Erdogan.
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