Verhältnis der NachbarländerGibt es ein Problem, fragen Schweizer: «Was ist die Lösung?», Deutsche hingegen: «Was ist die Vorschrift?»
Deutsche verstehen oft nicht, dass Schweizer die Nähe zu Deutschland gar nicht so schätzen. Warum? Erklärungen zu einem Missverständnis von unserem Gastautor.

Meine Frau ist Deutsche, und manchmal sage ich ihr: «Sei doch nicht so aggressiv.» Und Christiane sagt: «Ich bin nicht aggressiv, ich sage nur, was Sache ist.» - Ich: «Eben.»
Deutsche und Deutschschweizer sind verschieden, gleichzeitig sind sie sich sehr nahe. Aber die Deutschen in der Schweiz verstehen oft nicht, warum wir diese Nähe gar nicht so schätzen. Sie mögen uns und glauben, uns nahe zu sein. Wir grenzen uns ab. Schweizer in Deutschland hingegen profitieren von der Nähe. Bruno Ganz galt nicht als Ausländer: «Was, der ist Schweizer?» Joe Ackermann wurde nicht als fremder Banker betrachtet, er sprach ja Deutsch.
Von Gotthelf bis Dürrenmatt: Literatur eint Deutschland und die Schweiz
Gehören wir zum deutschen Kulturraum? Die Welschen haben mit ihren Nachbarn nicht das gleiche Problem und akzeptieren Paris als Kulturhauptstadt. Als Botschafter in Berlin wurde ich einmal gefragt, ob wir Gastland an der Leipziger Buchmesse sein wollten. Ich sagte Ja, aber unter einer Bedingung: Als Deutschschweiz sind wir nicht Gast in der deutschen Literatur. Gotthelf, Keller, Frisch, Dürrenmatt und viele andere gehören zur deutschen Literatur. So wurde die Schweiz 2014 zum «Schwerpunktland» der Messe.
Der Graben hat eine lange Geschichte: 1499, am Ende der Schwabenkriege – die Deutschen nennen sie «Schweizerkriege» –, trennten sich die Kuhschweizer vom Reich, weigerten sich, den Reichspfennig zu bezahlen und dem Reichskammergericht zu gehorchen. Wir mögen keine fremden Richter, eigentlich überhaupt keine Richter. Unsere Tradition sind Schiedsgerichte, nicht das hohe Gericht. Die gleichzeitige Reformation in Zürich und Deutschland schuf keine neuen Brücken. Endgültig unabhängig wurden wir aber erst im Westfälischen Frieden 1648.
Verflechtungen trotz Neutralität
André Holenstein hat die Schweizer Geschichte überzeugend als Dialektik von Verflechtung und Abgrenzung erklärt. Die Verflechtung blenden wir lieber aus und feiern die Abgrenzung. Wir bilden uns ein, die Neutralität habe das Land von den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschont, als hätten sich Hitler und seine Verbrecherbande vom Völkerrecht beeindrucken lassen.

Heute sind weiterhin 90 Prozent der Eidgenossen für die Neutralität. Früher beruhte sie auf dem gegenseitigen Interesse der europäischen Mächte und der Schweiz. Der Bundesrat behauptet zwar heute, Neutralität und Solidarität seien die zwei Seiten der gleichen Medaille. Aber wenn er die Weiterlieferung an die Ukraine von früher nach Deutschland gelieferter Schweizer Munition verweigert, erntet er in Berlin nur noch Kopfschütteln.
Der russische Angriffskrieg hat Neutralität und Solidarität zu neuen Gegensätzen gemacht. Wir glauben immer noch, die Weltgeschichte rausche spurlos an uns vorbei, europäische Mitverantwortung bleibt uns fremd.
In der Schweiz duzt man schneller
Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland, bin mittlerweile Doppelbürger und habe Schweizer Qualitäten noch mehr schätzen gelernt. Wir sind nicht so hierarchisch gestrickt, duzen schneller, vermeiden die Konfrontation und denken immer schon an den Kompromiss. Wenn es ein Problem gibt, fragen wir uns: «Was ist die Lösung?», die Deutschen hingegen: «Was ist die Vorschrift?», oder, noch schlimmer, sie behaupten einfach: «Ich bin nicht zuständig.»
Für deutsche Pflegerinnen ist ein gut bezahlter Job in der Schweiz nicht nur wegen der besseren Personalausstattung attraktiv, sondern auch weil sie mehr entscheiden dürfen. Der deutsche Obrigkeitsstaat steigert seine Detailvorschriften bis zur Unerträglichkeit. Ohne Hausarzt kann man hier überleben, aber nicht ohne Steuerberater, den Lebensbegleiter jahrein, jahraus. Vom Finanzamt ist keine Hilfe zu erwarten, oft nur Schlamperei. Meine Steuern für 2022 kann ich erst jetzt bezahlen, 2023 und 2024 irgendwann.
Vorteil der direkten Demokratie
Beide Staaten sind föderal organisiert, aber in der zentralen Frage «Wie holt sich der Staat sein Geld, und wie verteilt er es?» sind wir total verschieden. In Deutschland fliessen alle Steuern (abgesehen von Hunde- und Gewerbesteuern) zuerst in eine riesige Badewanne in Berlin, von der sie dann durch 10’000 obskure Schläuche wieder im Land verteilt werden. Föderalistisch ist dabei lediglich die Mitsprache der Länderkammer (Bundesrat). In der Schweiz hingegen liegt der enorme Vorteil für Transparenz und Verantwortlichkeit in der Finanzhoheit der Gemeinden und Kantone. Viele Ausgaben und Steuern sind zusätzlich über direktdemokratische Entscheide legitimiert.

Überhaupt erspart uns die direkte Demokratie die Politikverdrossenheit im Obrigkeitsstaat, den wachsenden Unmut «gegen die da oben». Den Eingang der Zürcher Uni ziert die Aufschrift: «Durch den Willen des Volkes». In Berlin hingegen verkündet der Giebel des Reichstagsgebäudes: «Dem deutschen Volke». Der Schweizer fragt sich: Wer ist das gönnerhafte Subjekt dieses Dativs?
Luther und Zwingli trafen sich nur einmal, 1529 in Marburg. Der kaiserhörige Luther bezeichnete den humanistischen, von Erasmus beeinflussten Schweizer als «pervers», zerschnitt das Tischtuch und stellte fest: «Zwischen uns wird es nie Einigkeit geben», ja er soll zum Schluss gesagt haben: «Ihr seid eines anderen Geistes.»
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