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Studie über Beschwerdebriefe
Wer ist unhöflicher, Schweizer oder Deutsche?

Wie schnell der Finger verbal hochgeht – das hat auch mit der Kultur zu tun..
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Wenn Konsumentinnen und Konsumenten sich in Deutschland schriftlich beschweren, sind sie dann höflicher oder unhöflicher als jene in der Schweiz? Unhöflicher, würde man hierzulande denken. 

Dass Deutsche aus Schweizer Sicht tendenziell schroff sind, suggerierte schon eine Kampagne der Fachstelle für Integration des Kantons Zürich, die vor mehr als zehn Jahren Zugezogenen aus verschiedenen Ländern helfen wollte, sich zu integrieren. Das Plakat, das sich an Deutsche richtete, zeigte einen blauäugigen blonden Mann. Die Aufschrift lautete: «Sag doch statt ‹Ich krieg dann mal!› lieber ‹Bitte könnte ich vielleicht?›.» Die Fachstelle betonte damals, die Sujets der Kampagne seien «keine Schenkelklopfer, sondern ein Augenzwinkern».

«Unhöflich klingt ‹Ich krieg dann mal› in deutschen Ohren nicht»: Kerstin Maire über die Kampagne, mit der die Fachstelle für Integration des Kantons Zürich vor gut zehn Jahren auf hiesige Gepflogenheiten hinwies.

In ihrer Luzerner Wohnung erinnert sich Kerstin Maire an die damaligen staatlichen Integrationsbemühungen, weil auch ihre Dissertation von sprachlichen Unterschieden zwischen deutscher und Schweizer Bevölkerung handelt. Auf dem Tisch vor der Doktorandin liegt ein Ordner mit ihrer 467-seitigen Arbeit, ausserdem Kopien von Studien, Sichtmäppchen mit Unterlagen, Dokumente, die sie in den letzten fünf Jahren zusammengetragen hat. «Forderungen und Beschwerden. Ein linguistischer Vergleich: deutschsprachige Schweiz und Deutschland» lautet der Titel der Arbeit, die sie im Juli am Deutschen Seminar der Universität Zürich präsentieren wird. 

Maire ist in Deutschland aufgewachsen, lebte aber zum Zeitpunkt der Integrationskampagne bereits seit zwanzig Jahren in der Schweiz. «Ich habe das Plakat auf dem Weg zur Uni gesehen, das weiss ich heute noch», sagt Maire. Der Spruch habe ihre Aufmerksamkeit erregt, weil ihr schon lange bewusst war: Manches, was sprachlich in der Schweiz zum Alltag gehört, ist in Deutschland undenkbar. Und umgekehrt.

«Ich krieg dann mal … das ist in deutschen Ohren keineswegs unhöflich.»

Kerstin Maire

Maire sagt: «An der Migros-Kasse zum Beispiel, ‹Zwänzg Franke, wenn Sie wänd so guet sii› – warum appelliert man an die Güte von jemandem, dessen Pflicht es ist, etwas zu bezahlen?» Dahinter stecke eine andere Auffassung von Höflichkeit, als sie sich in einem Satz niederschlage wie: «Ich krieg dann mal ein Brötchen!» – der allerdings in deutschen Ohren keineswegs unhöflich sei. (Mehr dazu: Erfahrungsbericht – deutsche Journalistin kritisiert Schweizer Mentalität.)

Für ihre Dissertation hat Maire 30 Unternehmen aus den beiden Ländern kontaktiert, mit der Bitte, ihr schriftliche Beschwerden zur wissenschaftlichen Auswertung zuzustellen. Bei den Schweizer Firmen sprach sie persönlich vor, um ihre Arbeit zu erläutern und allfällige Bedenken zu zerstreuen. Insgesamt erhielt sie 850 Dokumente, 613 aus der Schweiz und 236 aus Deutschland – genug, um statistisch relevante Aussagen zu machen. Es sind Briefe, Mails und Texte aus Online-Kontaktformularen. Geschrieben wurden sie zwischen 2016 und 2019. (Mehr zum Thema: Warum ich als Deutsche gern in Zürich lebe.)

Fünf Jahre lang hat Kerstin Maire an ihrer Dissertation gearbeitet. Ein Jahr dauerte es, bis die Germanistin alle Beschwerden beschafft hatte. 

Maire musste sich verpflichten, weder die Namen der Unternehmen zu nennen noch jene der unzufriedenen Kundinnen und Kunden. Deren Alter, Bildungshintergrund und ökonomischen Status kennt sie nicht. «Unter den Firmen sind solche, die von einem grossen Teil der Bevölkerung genutzt werden», sagt Maire. Start-ups mit einer Handvoll Mitarbeitern habe sie nicht angefragt.

«Horst der Woche»

In den Nuller- und frühen Zehnerjahren sind viele Deutsche in die Deutschschweiz gezogen. Sie konnten die Sprache, waren meist gebildet und traten gut bezahlte Stellen an, aber eine derart starke Zuwanderung aus dem nördlichen Nachbarland war für die Schweizer Bevölkerung ungewohnt. «Seien wir ehrlich, es sind zu viele Deutsche im Land», sagte die damalige SVP-Nationalrätin und heutige Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli im April 2012 in der Diskussionsrunde «SonnTalk».

Ein Redaktor des «Tages-Anzeigers» schlug während einer sogenannten Brainstorming-Sitzung eine Rubrik mit dem Titel «Horst der Woche» vor, in der wöchentlich ein Deutscher fertiggemacht oder auch mal gelobt werden sollte. Das war zwar eher scherzhaft gemeint und wurde umgehend verworfen, aber allein die Idee war für die damalige Zeit bezeichnend. 

2008 erschien im deutschen Rowohlt-Verlag der Bestseller «Grüezi Gummihälse» des heutigen «Magazin»-Chefredaktors Bruno Ziauddin: eine satirische Betrachtung über das Zusammenleben zwischen Einheimischen und deutschen Einwanderern, die aber aufgrund zahlreicher Gespräche und Recherchen zu durchaus ernsthaften Ergebnissen kam. Etwa, dass viele Schweizerinnen und Schweizer Deutsche in der mündlichen Kommunikation tatsächlich als schroff empfinden, weil sie unverblümter kritisieren oder weniger Höflichkeitsfloskeln benutzen. Und dass Deutsche – zum Beispiel in Spitälern oder an der Universität – stärker hierarchisierte Strukturen gewohnt sind, was sich auch verbal niederschlägt. Eine erfahrene Pflegerin, die einen jungen Arzt auf einen Fehler hinweist und ihn dabei auch noch duzt: selbstverständlich in der Schweiz, schwer vorstellbar in Deutschland.

Ziauddin beschrieb, wie alltagskulturelle Differenzen Missverständnisse und Irritationen provozieren können.

Das Resultat ist für die Schweizerinnen und Schweizer alles andere als schmeichelhaft.

Zu Beginn ihrer Dissertation über den Unterschied zwischen Schweizer und deutschen Beschwerden ging Kerstin Maire aufgrund dieser Vorgeschichte von einer klaren Hypothese aus: Schweizerinnen und Schweizer sind auch dann höflicher als Deutsche, wenn sie schriftlich reklamieren oder sich beschweren. Sie äussern, vermutete Maire, seltener Unmut und wenn, dann weniger heftig. Und sie vermeiden es eher, direkte Forderungen zu stellen.

«Trottel», «Hurenpack», «Luschen»

Und was hat Kerstin Maire herausgefunden? Die Doktorandin sagt: «Die Resultate haben mich überrascht.» 

In ihrer Arbeit unterscheidet Maire Wörter, Formulierungen und kommunikative Strategien, die bei den Schweizer Beschwerdebriefen häufiger sind als bei den deutschen und umgekehrt. Ausserdem nennt sie Elemente, die ausschliesslich auf der einen oder anderen Seite vorkommen. Hingegen macht sie keine Aussagen darüber, wie hoch jeweils bei Schweizer und deutschen Beschwerden der Prozentsatz mit unhöflichen Formulierungen ist - schlicht deshalb, weil Höflichkeit und Unhöflichkeit in der Linguistik keine genau definierten Kategorien sind. «Es hängt nicht zuletzt von der subjektiven Wahrnehmung ab, was unhöflich oder beleidigend ist», sagt Maire.

Die wichtigsten Ergebnisse der Dissertation sind: 

  • Kräftige, bisweilen sogar vulgäre Beleidigungen und Beschimpfungen des Personals finden sich nur in den Schweizer Briefen: «Trottel», «Hurenpack», «Luschen», «Oberidiot». Auch Produkte und Dienstleistungen werden nur in den Schweizer Schreiben heruntergemacht, etwa als «totaler Schrott», «Drecksladen», «Gerümpel».

  • Unmut wird von den Schweizerinnen und Schweizern deftiger ausgedrückt, etwa mit den Wörtern «stinksauer» und «ankotzen». Die Deutschen verwenden hingegen Bezeichnungen wie «ungehalten», «geschockt», «fassungslos», «verblüfft», «frustriert».

  • Derselbe Unterschied zeigt sich, wenn die beiden Nationalitäten das Verkaufspersonal und dessen Verhalten charakterisieren. In den Schweizer Briefen: «ignorant», «dreist», «bescheissend», «durchgeknallt», «sheriffmässig», «peinlich». In den deutschen: «patzig», «schnippisch», «krass», «pampig». Die Wörter «unverschämt», «frech» und «verarscht» kommen hingegen bei beiden Gruppen vor.

  • Auch bei den Forderungen dasselbe Bild: Auf Schweizer Seite finden sich die Wendungen «Ich bestehe auf», «Ich verlange», «Ich rate Ihnen dringend», «Kommen Sie mir ja nicht mit», «Wird nicht sofort, dann». Auf deutscher Seite: «Ich benötige», «Ich hoffe», «Wir sehen entgegen, dass». 

  • Die Grussformel am Anfang oder Ende des Dokuments sparen sich Schweizerinnen und Schweizer in 40 Prozent der Briefe, während sich Deutsche diese grobe Unhöflichkeit nur in 8 Prozent der Fälle erlauben.

  • In deutschen Dokumenten wird häufiger ein kommunikatives Vorgehen eingesetzt, das man in der Linguistik als Alter-Erhöhung bezeichnet («alter» ist das lateinische Wort für anders, der andere): in diesem Zusammenhang die positive Würdigung einer Person – um danach zu beklagen, dass die Erwartungen diesmal nicht erfüllt wurden.

  • Schweizer Beschwerden richten sich häufiger an die Geschäftsleitung oder an sonstige Mitglieder der Chefetage als deutsche. 

Als Sprachwissenschaftlerin würde es Maire wohl nicht so formulieren, aber geht man davon aus, dass auch ein Beschwerdebrief halbwegs höflich und zivilisiert sein sollte, muss man sagen: Das Fazit der Dissertation ist für die Schweizerinnen und Schweizer alles andere als schmeichelhaft.

Ein Beispiel für ein Beschwerdemail. Es stammt unverkennbar aus der Schweiz.

Warum ist das so? Und weshalb scheinen Schweizerinnen und Schweizer mündlich höflicher zu sein als Deutsche, während es in der geschriebenen Sprache offensichtlich gerade umgekehrt ist? 

«In der Schweiz sind die Hemmungen kleiner, mal jemandem deftig die Meinung zu sagen.»

Kerstin Maire

Bevor Kerstin Maire antwortet, betont sie zweierlei: Erstens habe sie in ihrer Dissertation lediglich die linguistischen Strategien von Leuten ausgewertet, die Beschwerdebriefe schreiben. Daraus Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung zu ziehen, sei heikel. Und zweitens könne sie über die Gründe keine Tatsachen nennen, sondern lediglich Hypothesen formulieren. Wohlan denn:

  • «Wenn man sich mündlich nicht getraut, auf den Putz zu hauen, macht man es halt schriftlich», sagt Maire.

  • In der Deutschschweiz, führt die Doktorandin aus, herrsche ein Zustand, den man in der Linguistik Diglossie nennt: Alle Einheimischen beherrschen und sprechen Dialekt. Ob und wann sie in die Hochsprache wechseln, hängt nicht von ihrer Bildung oder sozioökonomischen Faktoren, sondern einzig von der konkreten Situation ab. Die Verwendung der Hochsprache, zumal der geschriebenen Hochsprache, ist deshalb für manche Schweizerinnen und Schweizer ungewohnt. Sich schriftlich gewandt und differenziert auszudrücken, fällt ihnen möglicherweise schwerer als Deutschen – was Schreibende aus der Schweiz wiederum dazu verleiten könnte, ihren Unmut deutungsoffen – «Der Service ist scheisse!» – statt eindeutig zu äussern. 

  • In Deutschland sind es tendenziell ältere, in ländlichen Regionen lebende Personen mit eher geringer Bildung, die Dialekt sprechen. Statt Dialekt oder regional gefärbtes Deutsch eine standardisierte Bildungssprache zu verwenden, signalisiert deshalb einen höheren gesellschaftlichen und ökonomischen Status. «In Deutschland ist das Bewusstsein für die sozialsymbolische Funktion der Sprache ausgeprägter», sagt Maire. Dies könnte erklären, weshalb Deutsche beim Schreiben von Beschwerden derbe umgangssprachliche Formulierungen eher meiden.

  • Dass Hierarchien in der Schweiz flacher sind, führt dazu, dass sich die Leute eher trauen, ihren Unmut handfest zu formulieren. Dazu passt auch, dass sie sich mit ihren Reklamationen und Beschwerden häufiger direkt an die Geschäftsleitung wenden. Maire sagt: «Das Ergebnis meiner Dissertation hat aus Schweizer Sicht auch etwas Positives: In einem Land, in dem Obrigkeitsgläubigkeit eher verpönt ist, sind auch die Hemmungen kleiner, mal jemandem deftig die Meinung zu sagen.»

  • Beleidigungen werden in Deutschland juristisch tendenziell strenger geahndet als in der Schweiz.

  • Die oft erwähnte mündliche Schroffheit der Deutschen beruht in Schweizer Ohren nicht zuletzt auf Eigenheiten wie Tonfall und Sprechgeschwindigkeit, die schriftlich keine Rolle spielen.

«Was man sich mündlich nicht traut, traut man sich vielleicht schriftlich», sagt Kerstin Maire. 

Zwei Dinge sind an Kerstin Maires Resultaten erfreulich. Indem sie die Einschätzung relativiert, wonach Schweizerinnen und Schweizer höflicher sind als Deutsche, beweist sie: Viele Klischees haben nur so lange Bestand, bis sich jemand eingehend mit ihnen beschäftigt.

Und sie bietet den Angestellten von Schweizer Firmen, die sich mit Beschwerden herumschlagen müssen, etwas Trost. Auch wenn Unflätigkeiten und Beleidigungen immer daneben sind: Die Empfänger sollten den oft scharfen Ton in den Briefen keinesfalls persönlich nehmen. Denn er ist nicht zuletzt kulturell bedingt.