Formel 1: Das Wunder von BrasilienVielleicht ist noch nie einer so gut gefahren wie Hamilton
Der Brite wird in Interlagos zweimal und um insgesamt 24 Plätze zurückversetzt – trotzdem schlägt er Widersacher Max Verstappen. Fast wären sie verunfallt, Hamiltons Chef brüllt in die Kamera.
Es ist Runde 59, und die Emotionen kochen. Toto Wolff, oft beherrschter Chef des Formel-1-Rennstalls Mercedes, gekleidet in ein weisses Hemd, eine adrette Brille auf der Nase, sieht plötzlich aus, als hätte er im Boxring einen übermächtigen Gegner mit einem heftigen Kinnhaken niedergestreckt. Als der Österreicher eine Kamera in der Mercedes-Box erblickt, streckt er ihr seinen Zeigefinger entgegen, packt seinen grimmigsten Blick aus und brüllt die Erleichterung in die Stuben der Fernsehzuschauer. Gentleman Wolff? Weit weg.
Es ist in diesem Moment nicht nur nachvollziehbar. Irgendwie scheint es sogar nötig und diesem Augenblick nur angemessen. Denn was Lewis Hamilton, dieser brillante Rennfahrer mit dem einzigartigen Gefühl am Lenkrad, in dieser 59. Runde vollendet, ist ein Meisterstück sondergleichen. Damon Hill, der Weltmeister von 1996, wird hinterher sagen, dass er wohl kaum je einen Piloten ein besseres Rennen hat fahren sehen. Er übertreibt damit nicht.
Hamilton also zieht an Max Verstappen im Red Bull vorbei, 12 Runden vor dem Ende, nach einer mirakulösen Aufholjagd. Und, auch das lässt die Gefühle aus seinem Chef herausbrechen: nach Abwehrmanövern von WM-Leader Verstappen, die sich – zurückhaltend formuliert – an der Grenze des Erlaubten bewegten. Als Hamilton bereits in Runde 48 vorbei zu sein scheint, drängt ihn der Niederländer in einer Kurve weit in die Auslaufzone und fährt selbst meterweit neben der Strecke. Hamilton holpert über die Wiese zurück auf die Strecke und funkt: «Verrückt!» Die Richter der Formel 1 sehen das anders, trotz ziemlich lauten Protests aus der Garage von Mercedes.
Auch die Zickzackfahrt von Verstappen nützt nichts
Auch als Verstappen auf einer Geraden und bei horrendem Tempo nach links, nach rechts, nach links und wieder nach rechts zieht, drücken sie beide Augen zu. Entsprechend angestachelt ist der Mann am Steuer des hinteren Wagens, der später sagt, er habe geglaubt, alles habe sich gegen ihn verschworen an diesem Wochenende. Bevor er in eine brasilianische Flagge gehüllt auf das oberste Podest steigt, sagt Hamilton auch: «Es fühlt sich an, als hätte ich erstmals in meinem Leben ein Rennen gewonnen.» Dabei ist es Triumph Nummer 101 in der Königsklasse.
Hamilton schraubt seine eigene Rekordmarke nach oben mit einem Sieg in einem Rennen, das er eigentlich nie hätte gewinnen dürfen. Denn die Stewards haben am Freitag und Samstag alles getan, um den siebenfachen Weltmeister möglichst weit entfernt von seinem jungen Herausforderer zu halten. Und dann dreht sich schon ab der 19. Runde doch wieder alles um das Duell der beiden besten Fahrer in den besten Autos, weil Hamilton in Kürzestzeit von Platz 10 auf Rang 2 nach vorne geschossen ist und Pole-Mann Valtteri Bottas beiden den Vortritt lassen muss.
Es half nichts, wurde Hamilton am Samstag vor dem dritten Sprint-Qualifikationsrennen dieser Saison über 24 Runden an das Ende des Feldes versetzt. Er pflügte sich durch bis auf Rang 5, als gäbe es nichts Leichteres. Es brachte nichts, wurde der Mercedes dann für das Rennen zurück auf Position 10 versetzt. Nach weniger als einem Drittel des Rennens liegt er doch auf Rang 2 und jagt Verstappen vor voller Kulisse durch das Autódromo José Carlos Pace.
Der fummelnde Verstappen
Erst hatten die Stewards Chirurgenwerkzeug benötigt, um an Hamiltons Wagen einen Fehler festzustellen. Sie fanden ihn: Der Abstand zwischen den beiden Heckflügelteilen, die sich umklappen lassen, um den Luftwiderstand zu verringern, wenn er einem anderen Boliden hinterherhetzt, lag nicht im Rahmen von maximal 85 Millimetern. Nein, der Abstand beim sogenannten DRS-Zustand war 0,2 Millimeter zu gross. Das Reglement ist klar: Disqualifikation, Start zum Sprintrennen am Samstag von ganz hinten.
Untersucht wurde da noch die Rolle von Verstappen, weil ausgerechnet er am Freitag im Parc fermé an Hamiltons Heckflügel herumgefummelt hatte. Weil dieser Park aber nun einmal «fermé» heisst, sprich «geschlossen», haben die Hände von Verstappen an gar keinem Autoteil irgendetwas zu suchen. 50’000 Euro muss der 24-Jährige aus der eigenen Tasche bezahlen deswegen. Er beteuert aber, nichts mit diesen 0,2 Millimetern zu tun zu haben, er habe schlicht schauen wollen, wie sehr sich der Flügel im Vergleich zu seinem bewegen lasse.
Am Sonntag dann gehts für Hamilton zurück, weil an seinem Mercedes schon der fünfte Motor eingesetzt werden muss. Nur drei Stück aber sind erlaubt. Es bringt letztlich alles nichts: Hamilton baut sich bald bedrohlich in Verstappens Rückspiegeln auf. Bis zur Runde 59, die dem Mann im weissen Hemd liter-weise Adrenalin in den Körper pumpt. Und Hamilton drei Rennen vor Schluss unerwartet bis auf 14 Punkte herankommen lässt an Verstappen.
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