«Tipflation» in den USAWenn das Trinkgeld komplett ausser Kontrolle gerät
25 Prozent Trinkgeld? 30 Prozent? In den USA werden Touristinnen und Konsumenten regelrecht dazu gedrängt, mehr zu zahlen. Dafür gibt es einen Grund.

Ruckartig dreht die Verkäuferin von Fresh Baguette im Washingtoner Stadtteil Georgetown den Touchbildschirm zum Kunden, um den Betrag zu bestätigen. 4,85 US-Dollar (4,46 Euro) kostet die Baguette. Man leistet sich ja sonst nichts. Die Kreditkarte ist kaum gezückt, poppt auf dem Bildschirm die Frage auf: Wie viel Trinkgeld darf es sein? 15 Prozent Tip? 18 Prozent? 20 Prozent?
Die Verkäuferin steht hinter der Theke und schaut zu. Der Stresspegel steigt, das Herz hämmert, die Gedanken rasen. Wie viel war diese Dienstleistung wert? Die Frau war professionell und nett, 20 Prozent. Aber warum sollte überhaupt ein Trinkgeld fällig werden? In einer Bäckerei, in der der Kunde die Baguette selbst aus dem Regal nimmt und vor die Kasse legt, ein Geschäft, in dem sich die Dienstleistung der Verkäuferin auf das blosse Einkassieren beschränkt? Doch ist es überhaupt zulässig, kein Trinkgeld zu geben?
«Tipflation», das heisseste Thema des Sommers
Die Bäckerei in Georgetown ist keine Ausnahme. Beim Coiffeur fragt die Kasse nach Trinkgeld. Am Glacestand. Bei der Käseverkäuferin. Beim Masseur. In Reiseforen sind zahllose Beispiele zu finden, in denen sowohl USA-Touristen als auch Amerikaner in Trinkgeldfallen tappten. Ausser Kontrolle sei das «Tipping» in den USA, beschwerte sich CNBC kürzlich. Die wortspielverliebten Amerikaner haben bereits einen Hashtag geschaffen: «Tipflation», das heisseste Thema dieses Sommers, zusammengesetzt aus den englischen Wörtern «Tip» und «Inflation». Zunehmend werden Kunden inzwischen nicht nur nach Trinkgeld gefragt, sondern regelrecht dazu gedrängt, mehr zu zahlen.
Selbst in den Restaurants, in denen die Amerikaner Trinkgeld seit Jahrzehnten gewohnt sind, sind diese zu einem Streitpunkt geworden. Denn auch die verlangten Beträge zeigen steil nach oben. Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, der einen weltweiten Preisschub auslöste, galt ein Tip von rund 15 Prozent beim Essen als Standard. Inzwischen schlagen viele Zahlterminals den Gästen automatisch deutlich höhere Trinkgelder vor: Der Kellner reicht das Gerät mit einer Dreierauswahl von 22, 25 oder 30 Prozent. Es ist unmöglich, unbemerkt einen anderen Betrag in das Gerät zu tippen, der soziale Druck ist hoch, eine der drei Optionen zu akzeptieren. Obwohl bei einem Obolus von 30 Prozent des Rechnungsbetrags die Verwendung des Worts «Trinkgeld» eher nicht mehr angebracht scheint.
Die «Tipflation» verärgert die Amerikanerinnen und Amerikaner. Während der Covid-Pandemie hatten sich viele grosszügig gezeigt. Sie sassen im sicheren Zuhause, während Restaurantangestellte zur Arbeit gingen, kochten, auslieferten. Die Leute bedankten sich, indem sie mehr Trinkgeld zahlten. Fast 24 Prozent waren es im Durchschnitt, erfassbar ist das unter anderem dank Internetbezahldiensten wie Square, die sich während der Pandemie beinahe ebenso schnell verbreiteten wie das Coronavirus. Inzwischen ist die Spendierfreude der Amerikaner wieder gesunken, die Tips betragen im Durchschnitt knapp unter 20 Prozent. Auch Studien über Trinkgeldgewohnheiten gibt es in den Statistik-verliebten USA zuhauf; in Fast-Food-Restaurants zahlen die Amerikaner derzeit knapp 17 Prozent, beim Essen mit Bedienung rund 20 Prozent (lesen Sie, wie viel die Schweizer geben).
Für Angestellte mit Trinkgeld ist der Mindestlohn 2,13 Dollar pro Stunde, 7,25 Dollar sind es für Berufe ohne Tip.
Nun sind es die Restaurants und die Bezahldienste, die laufend höhere Beträge vorschlagen. Dabei sollten Trinkgelder in den USA tendenziell eher sinken, weil der Mindestlohn steigt. Trinkgelder spielen seit den 1960er-Jahren vor allem für Angestellte in der Gastronomie eine viel wichtigere Rolle als in europäischen Ländern. Für Arbeitnehmende, die Tips erhalten, ist der gesetzliche Mindestlohn deutlich tiefer: Lediglich 2,13 Dollar pro Stunde (rund 1,88 Franken) schreibt das Bundesrecht als Minimum vor, 7,25 Dollar beträgt es für Berufe ohne Trinkgeld.
Trinkgeld ist darum für Serviererin Carmen Smith kein Zückerchen, sondern ein existenzieller Bestandteil ihres Lohns. Die 41-Jährige aus Milwaukee heisst eigentlich anders, besteht aber auf Anonymisierung, weil sie über ihren Lohn in einem guten Restaurant in der grössten Stadt im Bundesstaat Wisconsin Auskunft gibt. An einem guten Abend geben ihr die Gäste Trinkgeld im Wert von 250 Dollar. Das ist der mit Abstand grösste Teil ihres Lohns. Der Arbeitgeber zahlt nur den gesetzlichen Mindestlohn für Angestellte mit Trinkgeld. Unglaublich tiefe 2,33 US-Dollar pro Stunde beträgt der Sockel in Wisconsin, grosszügige 20 Cents mehr als der nationale Richtwert.
Bei vier Arbeitstagen pro Woche verdient Carmen Smith zwischen 4000 und 5000 Dollar pro Monat, in erster Linie dank der Trinkgelder. Damit finanziert sich die Alleinstehende einen bescheidenen Lebensstil. Carmen Smith erhält als Serviererin weder Krankenversicherung noch Rentensparplan, beides Sozialleistungen, die in den USA mit der Arbeitsstelle verbunden sind. Vor allem Angestellte in Berufen mit tiefen Löhnen erhalten dazu keinen Zugang und müssen sich ihre medizinische Versorgung und ihren Ruhestand selbst finanzieren, was sündhaft teuer ist.
Der harte amerikanische Traum
Genauso hart, wie das klingt, ist die Realität des amerikanischen Traums für viele Menschen. Als Trinkgeldberuf kann nach US-Recht fast jede Beschäftigung gelten. Bedingung ist einzig, dass Trinkgeld fliesst. Auch Kundinnen und Kunden bleiben im Ungewissen, wenn sie entscheiden müssen, ob sie Trinkgeld geben, wenn die Kasse danach fragt.
Bedeutet Nein zu sagen, dass das Personal am Ende des Tages mit einem mickrigen Lohn nach Hause geht? Reicht das Trinkgeld nicht aus, um den normalen Mindestlohn zu erreichen, müssten die Arbeitgeber von Gesetzes wegen den Unterschied zahlen. Allerdings hält sich kaum jemand an diese Vorschrift. Mehr als vier von fünf Chefs verletzen die Regeln, fanden die Bundesbehörden vor über zehn Jahren bei einer Untersuchung heraus. Seither gab es keine Untersuchungen mehr.

Die Auswüchse haben dazu geführt, dass Teile der USA die Trinkgeldkultur eindämmen wollen. In Wirtschaftskreisen wird sie verherrlicht als kapitalistisches Ideal der Entlöhnung nach der Leistung. Kritikern hingegen gilt sie als das Gegenteil, weil die Arbeit eben gerade nicht bezahlt werde. Sie verweisen auf die Geschichte der Trinkgeldtradition. Aus dem feudalen Europa ins republikanische Amerika importiert, feierte sie dort nach dem Ende des Sezessionskriegs ein Revival. Die Sklaven waren fortan frei, anstellen und entlöhnen wollten die Weissen sie aber nicht. Stattdessen zahlten sie Trinkgelder. Sie schufen so eine neue Schicht von Tiefstlohnarbeitern, die sich im Zug der Industrialisierung auch die Staaten im Norden zunutze machen sollten.
Inzwischen haben acht Bundesstaaten und Territorien den Trinkgeldmindestlohn abgeschafft oder sind im Begriff, es zu tun. Auch die Hauptstadt Washington erhöht ihn schrittweise, zunächst von 5,35 auf 7,35 Dollar, und will ihn 2027 ganz aufheben. Dann gilt für alle Angestellten derselbe Mindestlohn von 17 Dollar. Gastronomen beklagen sich allerdings, in Zukunft werde die Rechnung für die Arbeitgeber nicht mehr aufgehen. Zahlreiche Restaurants haben darum inzwischen unterschiedlichste Zuschläge erfunden. Es begann nach der Covid-Pandemie mit einer «Restauranterholungsgebühr», ein Beitrag von Kunden an die Ausfälle während der Lockdowns, zwischen 3 und 5 Prozent des Rechnungsbetrags. Inzwischen verlangen selbst Hamburgerlokale eine «Servicegebühr» von 20 Prozent oder mehr.
Kellnerin Carmen Smith findet, 20 Prozent seien das Minimum, damit sie genug verdient für ihren Lebensunterhalt.
Nach Trinkgeld fragt die Kasse selbstverständlich trotzdem. Und auch zu Recht, denn je nach Ausgestaltung solcher Servicegebühren landet das Geld eher in der Kasse des Arbeitgebers als der Angestellten. Für Kundinnen und Kunden ist dieses System höchst unübersichtlich. Die Restaurants müssen zwar sämtliche Servicegebühren in der Karte aufführen, die Menüpreise aber verstehen sich stets ohne Steuern, Gebühren und Tips.
In den USA fällt darum die Restaurantrechnung am Ende nicht nur für Touristen oft überraschend hoch aus, Tendenz zunehmend. Carmen Smith findet, die Höhe des Trinkgelds dürfe darunter nicht leiden. 20 Prozent seien das Minimum, damit Serviererinnen und Servierer mit ihrer Arbeit genug verdienten für ihren Lebensunterhalt. Selbst wenn sie den regulären Mindestlohn erhalten, sind sie auf Trinkgeld angewiesen: Auch 7,25 Dollar pro Stunde, in Wisconsin der gesetzliche Mindestlohn, reichen nicht zum Leben.
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