Biodiversität in GefahrEin Fünftel der Arten in Europa ist vom Aussterben bedroht
Der Verlust von Tieren und Pflanzen spitzt sich zu, besonders betroffen sind Insekten. Doch es gibt auch Hoffnung.
Der Warzenbeisser hat seinen seltsamen Namen, weil Bauern die Heuschrecke früher angeblich an ihren Warzen knabbern liessen – in der Hoffnung, dass die ätzenden Verdauungssäfte des Insekts ihre Warzen heilen. Heute ist der Warzenbeisser in Europa vom Aussterben bedroht – genauso wie viele andere Tiere und Pflanzen.
Der ganze Planet steckt in einer Biodiversitätskrise, die sich dadurch äussert, dass Arten 10 bis 100 Mal schneller verschwinden als im Laufe der vergangenen zehn Millionen Jahre. Viele Forschende gehen davon aus, dass sich die Welt derzeit mitten in einem gigantischen Massensterben befindet – ähnlich dem Aussterben der Dinosaurier in der Kreidezeit. Und die Lage ist offenbar noch schlimmer als gedacht.
Ein Team um den Biodiversitätsforscher Axel Hochkirch hat jetzt das Ausmass des Artenschwunds für Europa neu berechnet. «Nach unseren Ergebnissen ist ein Fünftel aller europäischen Tier- und Pflanzenarten, über die es Informationen gibt, vom Aussterben bedroht, sagt Hochkirch, der am Musée national d’histoire naturelle in Luxemburg forscht. «Rechnet man die Zahlen für Europa auf den ganzen Planeten hoch, kommt man auf zwei Millionen vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten weltweit.» Das sind doppelt so viele wie in der Schätzung des Weltbiodiversitätsrates IPBES aus dem Jahr 2019.
Der Grund für diesen dramatischen Anstieg seien vor allem neue Erkenntnisse über die Bedrohungslage der Insekten, die dem Weltbiodiversitätsrat noch nicht vorlagen, sagt Hochkirch. Der aktuellen Untersuchung zufolge, die im Wissenschaftsjournal «Plos One» erschienen ist, sind 24 Prozent aller Insekten bedroht, der Weltbiodiversitätsrat ging noch von 10 Prozent aus. Neben dem Warzenbeisser geht es zum Beispiel auch dem Grossen Eichenbock schlecht, einem Käfer, der alte abgestorbene Eichen braucht, um zu überleben. Weil es solche Bäume in den Wäldern Europas kaum noch gibt, ist auch der grosse, auffällige Käfer mit den langen Antennen fast verschwunden.
Von den Wirbeltieren Europas sind der Studie zufolge 18 Prozent bedroht. «Eines der am stärksten gefährdeten ist der Europäische Nerz», sagt Hochkirch. Früher waren die Raubtiere auf dem ganzen Kontinent verbreitet. Heute gibt es in ganz Europa nur noch einige Tausend Exemplare, die meisten davon auf einer estländischen Insel. In der Schweiz ist der Europäische Nerz schon lange ausgestorben. Gefährdet ist auch der Papageitaucher. Er ernährt sich hauptsächlich von Fisch und findet vielerorts schlicht zu wenig zu fressen, weil die Meere vom Menschen überfischt sind.
Auf ihre Neubewertung des Artenschwunds kamen die Studienautorinnen und -autoren, indem sie Informationen zu allen 14'669 europäischen Tier- und Pflanzenarten auswerteten, die auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN stehen. Das sind etwa zehn Prozent aller europäischen Arten, auch solche, die nicht als gefährdet gelten, weil ihre Bestände stabil sind. Von den restlichen 90 Prozent weiss man schlicht nicht, ob und wie stark sie bedroht sind.
Auf dieser Basis konnten die Forscherinnen und Forscher für ihre Untersuchung alle europäischen Wirbeltiere berücksichtigen, also alle Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien und Reptilien. Bei den Insekten hatten sie Informationen zu funktionell wichtigen Tiergruppen wie Bienen, Schmetterlingen, Libellen und Heuschrecken. Ausserdem flossen Daten von etwa zwölf Prozent der bekannten europäischen Pflanzenarten in die Studie ein, darunter alle Bäume.
«Europa ist eine jener Regionen der Erde, für die wir noch die besten Daten haben. Wenn sich hier die Situation schon derart dramatisch darstellt, bedeutet dies, dass sich die Biodiversitätskrise in anderen, weitaus artenreicheren Regionen sehr wahrscheinlich noch deutlich brisanter darstellt», sagt Matthias Glaubrecht, der an der Universität Hamburg und am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels den Artenschwund untersucht und nicht an der Studie beteiligt war.
Veränderung der Landwirtschaft als Grund für Artenschwund
Auch mit den Ursachen des Artenschwunds in Europa haben sich die Forschenden in ihrer aktuellen Untersuchung beschäftigt. «Einer der wichtigsten Gründe ist die Veränderung der Landwirtschaft», sagt Hochkirch. Dabei gehe es nicht nur um die für viele Arten schädliche Intensivierung.
Auch die Aufgabe von Flächen, die dann verbuschen und verwalden, trage zum Artenschwund bei. «Viele Spezies in Europa sind an eine extensiv bewirtschaftete Landschaft angepasst», sagt Hochkirch. Der Warzenbeisser zum Beispiel braucht Grünflächen, in denen es offene, unbewachsene Stellen im Boden gibt, aber auch längere Grashalme. Solche Strukturen entstehen, wenn Grünflächen beweidet werden, zum Beispiel von Schafen.
Die gute Nachricht ist, dass sich das Aussterben einer bedrohten Art durchaus verhindern lässt, wenn man die Ursachen für den Schwund kennt und abstellt. Ein Beispiel dafür ist die Crau-Schrecke, die ausschliesslich in der Crau vorkommt, einer Schottersteppe in Südfrankreich. Das seltene Tier war auch dort schon fast verschwunden, lange konnte sich niemand erklären, warum. Dann fand man heraus, dass das Gebiet offenbar zu stark von Schafen beweidet wurde. Seit dort zwei Monate im Jahr keine Schafe mehr weiden dürfen, hat sich die Schrecke wieder erholt. Inzwischen gibt es dort wieder mehrere Hundert Exemplare.
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