Notlage in AfghanistanTaliban wollen Hilfsgelder ohne politische Vorgaben
Das Land am Hindukusch braucht internationale Hilfe im Kampf gegen die drohende Hungersnot und für den Aufbau seiner Wirtschaft. Das bringt den Westen in ein Dilemma.
«Nothilfe und Aufbauhilfe – unbedingt, bitte. Aber ohne politische Vorbedingungen.» Was Afghanistans stellvertretender Finanzminister Nazir Kabiri sagen will, ist klar. Die Taliban wollen internationale Unterstützung, sei es im Kampf gegen die Hungersnot im Land oder bei der auf Jahrzehnte hinaus nötigen Aufbauhilfe. Politische Konditionen – also Bildung für Frauen oder die Gleichstellung ethnischer Minderheiten – dürfen damit aber auf keinen Fall verbunden werden. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Afghanistan taumelt am Abgrund».)
Es ist eine unmissverständliche Ansage. Der Aufbau des neuen Afghanistan soll zu afghanischen Bedingungen erfolgen. Und das heisst angesichts der derzeitigen Machtverhältnisse: zu Taliban-Bedingungen.
Vizeminister Kabiri kann die katastrophale Lage der Wirtschaft auffächern. Er kann das Ausmass an benötigter Hilfe für das von einer Hungersnot bedrohte 38-Millionen-Einwohner-Land beziffern. Er kann die für den Auf- und Ausbau der durch den Krieg zerstörten Infrastruktur benötigten Summen frei überschlagen. Am wichtigsten aber ist ihm: Alles, was zur Abhilfe getan wird, muss in afghanischer Regie geschehen.
Trotz aller Versuche der Taliban, einen geläuterten und kompromissbereiten Eindruck zu machen, trifft Kabiris Ansatz den Kern des Denkens der neuen Herrscher Afghanistans.
«Technokrat und kein Gefolgsmann der Taliban»
Für die Islamisten und ihre Anhänger, aber auch für viele den Taliban gegenüber kritisch eingestellte Afghanen sind die vergangenen zwei Jahrzehnte eine Zeit ausländischer Besetzung und einer von Invasoren gestützten, durch und durch korrupten Kabuler Führung. Kabiri sagt: «Das alte Regime ist doch nicht über Nacht zusammengebrochen. Es zerfiel in den langen Jahren der Korruption.»
Kabiri ist unter dem international nicht anerkannten Talibanregime als Vizefinanzminister zuständig für Reformen und Entwicklung. Er ist einer der wenigen im Dienst gebliebenen hochrangigen Vertreter des alten Regimes. Laut eigener Darstellung hält er sich ideologisch von den Machthabern fern. Er sei «Technokrat und kein Gefolgsmann der Taliban», so Kabiri, «ich arbeite im Dienst meines Landes und meines Volkes».
Nach langem Zögern fliesst nun die internationale Hilfe wieder, wenn auch nicht in ausreichendem Mass.
Der Vizeminister, der auf diesem und ähnlichen Posten unter der Regierung von Präsident Ashraf Ghani gearbeitet hat, ist als Tadschike einer der wenigen Vertreter einer ethnischen Minderheit im von Paschtunen dominierten Talibankabinett. Kritiker werfen ihm vor, sich den Islamisten als Feigenblatt anzudienen.
Nach den internationalen Forderungen nach einer inklusiven Regierung hatten diese ihr Kabinett mit einigen Angehörigen der Minderheiten aufgefüllt. Die aber sind Technokraten, haben keine politischen Ämter inne. Ob Feigenblatt oder nicht: Kabiri ist einer der wenigen Amtsinhaber im Talibanstaat, die eine gemeinsame Sprache mit den internationalen Vertretern finden, die dem isolierten Regime über die Runden helfen können.
USA geben Kabuler Währungsreserven für humanitäre Nothilfe frei
Kabiris Darstellung von Korruption als Ursache der Misere ist nicht nur seine Sicht – sie ist Allgemeinwissen in Afghanistan. Was die über zwei Jahrzehnte geleistete westliche Aufbauhilfe im Bereich der Infrastruktur – Strassen, Kanäle, Dämme, Flughäfen, Stromleitungen, aber auch Schulen, Spitäler und andere öffentliche Einrichtungen – geschaffen hat, wird von den Anhängern der Islamisten abgetan.
Und Talibanvertreter selbst sagen: «Was haben uns die USA und die westlichen Besatzer in zwanzig Jahren hinterlassen? Nichts. Auch die Sowjets waren Besatzer. Aber sie haben wenigstens Wohnsiedlungen und Universitäten gebaut.»
Nach langem Zögern beginnt nun die internationale Hilfe langsam wieder zu fliessen, wenn auch nicht in ausreichendem Mass angesichts des weitgehenden Zusammenbruchs der Wirtschaft und einer Hungersnot. So hat US-Präsident Joe Biden gerade 3,5 Milliarden Dollar aus den eingefrorenen Kabuler Währungsreserven für humanitäre Nothilfe bereitgestellt – zum Ärger der afghanischen Machthaber, die das Geld zurückwollten.
Weitere 3,5 Milliarden Dollar sollen zudem den Opfern der Terroranschläge vom 11. September 2001 zugutekommen – als Schadenersatz. Das entspricht noch weniger den Vorstellungen der Kabuler Regierung.
Was mit den restlichen der insgesamt rund 9 Milliarden US-Dollar werden soll, die im August 2020 eingefroren wurden, ist noch offen. Diese Währungsreserven seien nicht vordringlich, sagte Kabiri vor der Freigabe von Teilen des Geldes. Wichtiger sei es, dass die Sanktionen aufgehoben würden: «Ohne Zugang zum internationalen Bankensystem kann keine Wirtschaft funktionieren.»
Afghanistan könnte ein Transportkorridor sein – für Güter, Rohstoffe und Energie aus Zentralasien in das energiearme Südasien.
Kabiri sieht trotz der desolaten Lage für Afghanistan auch unter Talibanherrschaft eine Zukunft, inklusive Wohlstand: «Jede Krise ist immer auch eine Chance.» Das Land verfüge über eine geostrategisch einmalige Lage und besitze Rohstoffe. Man müsse dafür aber die Politik von den Wirtschaftsfragen «entkoppeln» – also keine Fragen nach Frauenrechten und Demokratisierung, sondern wirtschaftliche Zusammenarbeit, wo immer es geht. (Lesen Sie zum Thema Frauen in Afghanistan das Interview «Es tut mir so leid, zu sehen, was mit diesen Frauen geschieht».)
Ein Neuanfang zu eigenen Bedingungen: Das war auch schon die Botschaft der Wirtschaftskonferenz, die die Taliban Mitte Januar in Kabul abhielten. Unter diesem Titel waren der öffentlichkeitsscheue Premierminister Mullah Mohammad Hassan Akhund, einige seiner Minister und Fachleute wie Kabiri mit Abgesandten der Vereinten Nationen, der EU und anderer westlicher Staaten sowie mit Vertretern von internationalen Hilfsorganisationen und NGOs zusammengekommen. Dabei ging es vor allem um Nothilfe.
Ressourcen im Wert von Tausenden Milliarden Dollar
Kabiri und seine Mitarbeiter skizzieren aber auch ein Afghanistan, das nach vier Jahrzehnten des Kriegs und der Herrschaft von Warlords, Drogenbaronen und Islamisten endlich selbst aufstrebt. Das Land hat schätzungsweise natürliche Ressourcen im Wert von 1000 bis 3000 Milliarden Dollar: von Edelsteinen, Gold und Lapislazuli über Kohle, Eisenerz, Kupfer und Marmor bis zu Öl und Gas.
Vor allem aber könnte Afghanistan tatsächlich von seiner geografischen Lage profitieren: als Drehscheibe und Transportkorridor für Güter, Rohstoffe und Energie aus Zentralasien in das energiearme Südasien. «Die riesigen Volkswirtschaften Indiens und Pakistans gieren nach Energie, nach Strom, nach Gas und Öl aus Zentralasien», so der Vizeminister. «Und Afghanistan liegt genau dazwischen.»
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