Analyse zum ErdbebenWieso Taiwan glimpflich davonkam – und die Türkei nicht
Beim Erdbeben in Hualien starben mindestens zehn Menschen. Bei einem vergleichbar schlimmen Beben in der Türkei waren es 50’000. Das hat viel mit der Politik der Regierungen zu tun.
Erdbeben töten. Das gilt für manche Länder mehr als für andere. Taiwan und die Türkei zum Beispiel sind geologische Pechkinder unter den Nationen, liegen sie doch in tektonischen Hochrisikozonen. Die Menschen in Erdbebengebieten sind aber nicht bloss mit geologischen Urkräften geschlagen, oft plagt sie noch ein weiteres Joch: die Politik ihrer Regierungen. Die nämlich hat oft mindestens so viel Einfluss auf den Verlauf und die Folgen einer Katastrophe wie die Naturgewalt selbst.
Die Türkei und Taiwan bieten sich hier an für einen Vergleich, und das nicht nur, weil beide schon vor einem Vierteljahrhundert, im Jahr 1999, von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht wurden, das an beiden Orten mit einer Stärke von 7,6 auf der Richterskala ausschlug. In Taiwan starben damals 2400 Menschen, in der Türkei mehr als 17’000. Vor allem aber: In beiden Ländern waren sich die Experten hernach in der Analyse einig – verantwortlich für den Einsturz vieler Pfuschbauten war 1999 hier wie dort eine Komplizenschaft aus so gierigen wie verantwortungslosen Bauherren und korrupten, planlosen Behörden.
Strenge Bauvorschriften in Taiwan
Spannend ist, was in dem Vierteljahrhundert seither passiert ist: in der Türkei nicht viel. Die junge Demokratie Taiwan dagegen, die 1996 erstmals freie Wahlen kennen gelernt hatte, nahm die Lektion von 1999 ernst. Das Land sagte der Korruption den Kampf an. Taiwan ging daran, ein ausgefeiltes Erdbeben-Frühwarnsystem und neue Kommandozentren für Katastrophenhilfe zu schaffen, in Schulen wurden Kurse eingerichtet, vor allem aber: Strenge neue Baurichtlinien wurden eingeführt. Gebäude mussten von nun an erdbebensicher gebaut oder nachgerüstet werden. Diese Politik hat wesentlich dazu beigetragen, dass nach dem Erdbeben von Hualien diese Woche (die US-Erdbebenwarte USGS mass eine Stärke von 7,4) bis Redaktionsschluss nur zehn Todesopfer gemeldet wurden, auch wenn die Zahl wohl noch steigen wird.
Als in der Türkei hingegen vor einem Jahr erneut ein grosses Erdbeben zuschlug, starben mehr als 50’000 Menschen (lesen Sie hier über den Retter vom Bosporus). Vor allem aber zeigte sich: Die Regierung hatte die Lehren von 1999 fahrlässig missachtet. Die hohen Todeszahlen in der Türkei 2023 waren beileibe nicht allein auf die gewaltige Stärke des Bebens zurückzuführen (7,8 diesmal) – sondern erneut auf Untätigkeit, Korruption und Vetternwirtschaft.
Auch die Türkei hat seit 1999 moderne Bauvorschriften – es kümmerte sich bloss nie einer darum. Präsident Recep Tayyip Erdogan machte einen Zirkel von Baulöwen zu Alliierten, sie durften praktisch ohne Ausschreibungen und ohne Aufsicht ihre Häuser bauen, auch mitten in Erdbebengebieten. Illegale Bauten wurden im Nachhinein legalisiert. Viele Menschen zahlten dafür mit ihrem Leben. Für die Genehmigung illegaler Bauten musste sich niemand verantworten.
Die Organisation Transparency International (TI) misst die Korruption auf einem Index, wobei Platz 1 das am wenigsten korrupte Land, Platz 180 das korrupteste ist. Taiwan steht heute auf diesem Index auf Platz 28, die Türkei weit hinten auf Platz 115. Oya Özarslan, Gründungsdirektorin der türkischen Filiale von TI, schrieb nach dem Beben von 2023: «Es ist nicht das Erdbeben, das uns umbringt, es ist die Korruption.» Gäbe es einen Beipackzettel für die Demokratie, es müsste draufstehen: «Transparenz, Verantwortlichkeit und gute Regierungsführung sind gut für Ihre Gesundheit.»
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