Erdbeben in Taiwan«Plötzlich fing alles an zu wackeln»
Taiwan ist vom schlimmsten Erdbeben seit einem Vierteljahrhundert erschüttert worden. Die ganz grosse Katastrophe konnte die Inselrepublik verhindern – doch noch sind wohl zahlreiche Menschen verschüttet.
Als das schlimmste Erdbeben seit einem Vierteljahrhundert die Inselrepublik Taiwan trifft, befindet sich Avon Cheng im Esszimmer. «Plötzlich fing alles an zu wackeln», erzählt die 35-Jährige wenige Stunden später am Telefon, die Sätze kurz und abgehackt. Der Wasserspender fiel um, Geschirr zerbrach. Die Taiwanerin, die mittlerweile in den USA lebt, war erst am Montag mit anderen Freiwilligen einer Freikirche für ein christliches Kinderferienlager nach Hualien an die Ostküste der Insel gereist. «Jeder hat versucht, sich irgendwo festzuhalten.»
Sie habe überlegt, ob sie sich unter dem Tisch verkriechen sollte, wie sie es in der Grundschule gelernt habe. Oder nach draussen laufen, ins Freie. Doch dann fiel ihr ein, dass die sechs Kinder in ihrer Gruppe noch im dritten Stock waren und vielleicht Hilfe benötigten. Also blieb sie an Ort und Stelle, betete, dass die Wände des Landhauses hielten, bis die Erde sich wieder beruhigte. Seitdem halten sie und ihre Glaubensgenossen sich überwiegend im Freien auf, aus Angst, dass das Gebäude doch noch einstürzen könnte. Immer wieder gebe es Nachbeben. Im Hintergrund hört man aufgeregtes Vogelgezwitscher.
Auch in Japan zu spüren
Das Epizentrum des Erdbebens, das Cheng am Mittwochmorgen gegen 7.58 Uhr Ortszeit so geschockt hat, lag gerade mal 18 Kilometer von der Touristenstadt Hualien entfernt in wenigen Kilometern Tiefe. Es hatte nach Angaben der taiwanischen Wetterbehörde eine Stärke von 7,2 und war Berichten zufolge auch in Japan und Festlandchina noch zu spüren. Es war das schlimmste Beben seit 1999. Damals starben mehr als 2400 Menschen. Bislang wirkt es jedoch so, als sei das 23 Millionen Einwohner zählende Taiwan diesmal vergleichsweise glimpflich davongekommen.
Gemäss Behördenangaben sind Dutzende Gebäude in der Region um Hualien schwer beschädigt. Mindestens neun Menschen wurden bisher tot geborgen, und über 900 wurden verletzt. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahlen weiter steigen werden. Zudem wurden Dutzende Menschen verschüttet, darunter zwei Deutsche, die in einem Tunnel in einem Nationalpark in der dünn besiedelten Region eingeschlossen waren. Sie konnten jedoch befreit werden.
Autobahnen in der Gegend wurden geschlossen, Züge angehalten. In 300’000 Haushalten fiel der Strom aus, die Atomkraftwerke liefen aber weiter. Nur wenige Stunden später waren die allermeisten Haushalte auch wieder am Netz. Viele Regierungen haben Taiwan ihre Hilfe angeboten, darunter auch die Behörden im verfeindeten Festlandchina. Ob Taipeh sie annehmen wird, ist unklar.
Die Lehren aus dem letzten Beben
Auch Cheng berichtet, dass Strom und fliessendes Wasser bei ihnen weiter funktionierten. Aus den Bergen hinter dem Haus steige jedoch Rauch auf. «Wir hören die ganze Zeit Helikopter, Polizei und Feuerwehrautos.» Dass es trotz des heftigen Bebens nur so wenig Schäden gab, liegt auch daran, dass Taiwan seit dem Unglück von 1999 Vorsorge betreibt. Die Insel liegt am Rand der Eurasischen und der Philippinischen Platten, weshalb Beben dort an der Tagesordnung sind. Gebäude und Infrastruktur werden so konstruiert, dass sie selbst schwersten Beben standhalten sollen. Schon in der Grundschule werden die Kinder auf das richtige Verhalten im Ernstfall gedrillt. Zudem überwachen Messstationen im ganzen Land tektonische Aktivitäten. Auch gibt es ein Warnsystem, das auf Daten aus sozialen Medien und Überwachungskameras zugreift und den Rettungskräften hilft, schnell die am schwersten betroffenen Regionen zu identifizieren.
Erste Tsunamiwarnungen wurden schon bald wieder aufgehoben. Cheng hatte sich schon Sorgen gemacht: «Wir sind direkt am Ozean.» Doch dann hätten Anwohner ihr erklärt, dass sich die Wellen vom Epizentrum wegbewegten und sie deshalb wenig zu befürchten hätten. Trotz des Schocks wollen Cheng und ihre Mitstreiter das Ferienlager weiter veranstalten. «Dafür sind wir ja extra aus den USA gekommen.»
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