SVP-Politikerin Martina BircherVon der Realschülerin zur Regierungsrätin – Aufstieg einer Unterschätzten
Die Aargauerin steht für die SVP von morgen: jung, liberal in einigen Gesellschaftsfragen, hart im Asyl- und Sozialbereich. Ein Hausbesuch bei Martina Bircher in Aarburg.
- Martina Bircher wurde kürzlich zur Aargauer Regierungsrätin gewählt.
- Die SVP-Politikerin profitierte von einem «orkanartigen» Rechtsrutsch im Kanton.
- Sie hat in der Vergangenheit die Sozialhilfebezüger-Quote in Aarburg deutlich gesenkt.
- Birchers Bildungspolitik zielt auf ein Ende der integrativen Schule.
Gruselalarm bei der Familie Bircher. Draussen beim hauseigenen Swimmingpool, auf der Veranda, im Wohnzimmer. Halloween überall!
Am Nachmittag, wenn Sohn James-Henry vom Kindergarten zurück ist, will Martina Bircher weiter an Hexen und Kürbismonstern basteln. «Mach ich gerne, entspannt mich», sagt sie.
Flankiert von Unihockeyschlägern und einem Legokasten gibt sie in diesem Moment das klassische Bild der Mutter und Hausfrau. «Unterschätzt zu werden – d’Geschicht vo mim Läbe», sagt sie später.
In Wirklichkeit teilt sie sich Haushalt und Erziehung mit ihrem Lebenspartner. Dieser führt in Aarburg einen Mittagstisch.
«Orkanartiger Rechtsrutsch»
Und sie selbst ist politisch im Kanton oben angekommen. Nach einem schmutzig geführten Wahlkampf mit falschen Gerüchten und persönlichen Attacken wurde die Nationalrätin am Sonntag zur Aargauer Regierungsrätin gewählt. Mit 20’000 Stimmen Vorsprung auf die direkte Konkurrenz. Ein Glanzresultat. Das ist auch im traditionell bürgerlichen Kanton Aargau für eine Bürgerliche beachtlich.
Mit ihrem Erfolg beendet die SVP-Politikerin nach fünf Jahren eine ausschliesslich von Männern geführte Exekutive. Dass mit der 40-jährigen Bircher eine junge Frau in die Regierung kommt, war aber kaum ein Thema. Vielmehr war die Wahl der SVP-Politikerin als Synonym für einen Rechtsrutsch verstanden worden, der in SP-Kreisen als «orkanartig» bezeichnet wird.
In der «Aargauer Zeitung» liess sich Co-Parteipräsident Stefan Dietrich zitieren mit den Worten: «Es kommen vier verlorene Jahre auf uns zu.»
Die Linke hadert – auch wegen Martina Bircher. Sie sei, heisst es dort «off the record», eine stramm auf SVP-Linie Politisierende, die von der politischen Grosswetterlage profitiere. Bedeutet: weniger Klima und Naturschutz, dafür mehr Migration.
«Mich erinnern die Resultate ziemlich stark ans Jahr 2015», sagte Politologe Michael Hermann dieser Redaktion kurz nach Bekanntgabe des Aargauer Wahlresultats. Im Zuge der Flüchtlingskrise legten damals ebenfalls die SVP und die FDP am stärksten zu.
Laut Smartvote politisiert Martina Bircher im Nationalrat in Asylfragen am rechten Rand. In Bezug auf die Auslandspolitik agiert sie gar konservativer als die Partei selbst.
«Die härteste Sozialvorsteherin der Schweiz»
Ihr politischer Dreiklang geht so: Nein zum Familiennachzug für vorläufig aufgenommene Asylbewerber. Nein zur unkontrollierten Einwanderung. Ja zur Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Und seit Bircher als Vize-Gemeindepräsidentin von Aarburg vor zehn Jahren die hohe Sozialhilfebezüger-Quote von sechs auf zwei Prozent gesenkt hat, gilt sie als Hardlinerin. Als «härteste Sozialvorsteherin der Schweiz» wurde sie bezeichnet.
Das Image hat sie nie ablegen können. Will sie auch nicht. Es hat sie gross gemacht. «Wenn es darum geht, hart in der Sache zu sein, um Missstände zu beenden, dann bin ich eine Hardlinerin, ja», sagt sie.
Sie hat wieder abgeliefert
Das Image der Hardlinerin wurde ihr aber jüngst beinahe zum Verhängnis. Ausgerechnet bei der SVP. In der parteiinternen Vorwahl im letzten Jahr wurde ihre Mehrheitsfähigkeit infrage gestellt. Man traute ihr eine personalisierte Majorzwahl nicht zu.
Vielleicht darum hatte sie direkt nach der Wahl in die Mikrofone beinahe trotzig gesagt: «Ich habe wieder mal abgeliefert – trotz allem.»
Ein paar Tage danach sagt sie es in ihrem Wohnzimmer noch einmal. «Trotz allem!» Aber diesmal entspannter. Zufrieden krault sie Garabina, ihren Chihuahua. Der 15-jährige Schosshund ist der Liebling der Familie. Ein Kissen mit seinem Konterfei ziert die Sofalandschaft.
Trotz allem. Diese zwei Wörter begleiten Bircher bereits ein Leben lang. Das Narrativ von der Unterschätzten bedient sie selbst regelmässig. So sei sie als Kind stets die Kleinste gewesen, erzählte sie regelmässig in den Medien. So auch der «Schweizer Illustrierten», die ihr eine grosse Homestory widmete und sie gemeinsam mit Partner Fäbu beim Salsatanzen zeigt.
Die beiden haben sich in den Ferien auf Mallorca kennen gelernt. Solche Dinge erzählt sie offenherzig. Frau Normalo. Authentizität ist Teil ihres Kapitals.
In der Homestory der SI ist auch zu lesen, wie der Lehrer vor dem Übertritt in die Oberstufe einst meinte, dass die «kleine Martina» ja sowieso nur Mutter und Hausfrau werden würde.
Nicht nur Hausfrau wie die Mutter
Die «Kleine» arbeitete sich jedoch hoch: von der Real, das im Aargau unterste Level der Oberstufe, bis zur Berufsmatura und Fachhochschulabschluss.
Sie wollte es nicht wie ihre Mutter machen. Die gelernte Zahnarzthelferin schaute ihr Leben lang zu Heim und Kind und war damit – laut ihrer Tochter – unglücklich.
«Ich habe mir jeweils einzelne Etappenziele gesteckt, aber immer wieder damit gerechnet, dass ich es nicht schaffe.» Die junge Frau stapelte tief und ging hoch. Als Betriebsökonomin betreute sie als Endzwanzigerin bei Coop Grossprojekte.
Damals war sie bereits Mitglied bei der SVP. Aber noch nie in einem Amt oder einer Funktion. «Es hat mich auch nie jemand gefragt.»
Mit Fleiss – auch diesmal
Als sie schliesslich mit ihrem heutigen Partner nach Aarburg zügelte, kündigte sie sich selbst bei der Ortspartei an. Ihre Ambitionen damals waren klein – wie immer. «Ich sagte nur, dass ich dann da wäre, falls mal ein Ämtli frei werden würde.»
Der Rest ist Geschichte – und zeigt sich heute in Form mehrerer Blumensträusse und Sektflaschen in der offenen Küche. Es sind die Geschenke vom Wahlsonntag. Symbole für ihren Sieg.
Martina Bircher hat es geschafft. Mit Fleiss. Auch diesmal.
Sie habe einen wirkungsvollen Wahlkampf geführt, mussten auch ihre Gegner zugeben. Die Aarburgerin war klar in der Ansage, volksnah. Vor allem hatte sie sich an vielen Veranstaltungen gezeigt, am Abend, an den Wochenenden. Die Favoritin war sich nicht zu schade für die grosse Ochsentour durch den ganzen Kanton.
Wer sich bei alten Wegbegleitern, politischen Gegnerinnen und Freunden zu Bircher umhört, bekommt darum stets Ähnliches zu hören: fleissig, direkt bis forsch, genau.
Wandel mit den zwei Neuen
Hans-Ulrich Schär ist vor zehn Jahren zusammen mit Martina Bircher in den Gemeinderat von Aarburg gekommen. Der Parteilose als Präsident, die junge SVP-Frau als Vize. «Wir waren die Neuen, nicht überall willkommen», sagt er. Denn es war klar, dass sich mit den beiden einiges ändern würde. Die Finanzen der 9000-Seelen-Gemeinde lagen im Argen, die Bezüge in der Sozialhilfe waren hoch.
Schär erinnert sich, wie sich die junge Betriebsökonomin in die Zahlen stürzte. «Sie war bald sehr dossiersicher und vor allem: sehr lösungsorientiert und durchaus pragmatisch.» Der Gemeindepräsident hat Bircher nicht als Hardlinerin erlebt, eher als Praktikerin, die das Angebot der Kindertagesstätte ausgebaut hat und die Frühförderung für Kinder von Ausländern zur Bedingung gemacht hat.
Auch später als Nationalrätin, sagt Schär, habe sie verstanden, dass die kommunale Arbeit etwas anderes sei als jene in der Legislative. Während auf Bundesebene oftmals knallige Parolen gefordert sind, braucht es an der Basisarbeit vor allem Pragmatismus. «Sie kann beides. Ich werde sie jedenfalls vermissen.»
Martina Bircher spricht diesen Punkt selbst an. Sie sagt: «Klar, das sind verschiedene Hüte. Ich kann damit gut umgehen.»
So hat sie den harten Kurs der SVP im Bundesparlament stets mitgetragen, aber zu Hause in Aarburg gesehen, dass es keinen Sinn macht, wenn vorläufig Aufgenommene nicht arbeiten dürfen. «Die Realität ist: Diese Asylsuchenden werden nicht weggehen. Also ist es besser, wenn wir für diese Menschen eine Lösung suchen.»
Der Check mit der Realität
Sie spricht bereits wie eine Regierungsrätin. Lösungen und gemeinsame Arbeit. Sie wird im Aargau das Departement für Bildung, Kultur und Sport übernehmen. Wie immer ist sie schnell: Für die Bildung hat sie bereits einen 10-Punkte-Plan vorgelegt.
Dieser will vor allem die integrative Schule beenden und die einst abgeschafften Sonderklassen wieder einführen. Für Bircher ist das schlicht eine Reaktion auf die Realität. «Die Idee war ja, in diese Grossklassen Heilpädagogen dazuzustellen. Nur: Diese fehlen uns.»
Zum Fachkräftemangel komme auch noch hinzu, dass viele Schülerinnen und Schüler nicht richtig Deutsch sprechen. «Wir in Aarburg haben Klassen, in denen von zwanzig kaum fünf unserer Sprache mächtig sind.»
Die integrative Schule funktioniere nicht, glaubt Bircher. «Und man muss nun den Mut haben, das einzugestehen und zu beenden.»
Gegner wollen ihr den «Chnebel reinhalten»
Widerstand ist programmiert. Aus SP-Kreisen wird der Plan schon mal als «populistisch à la Trump» bezeichnet. Philippe Kühni von der GLP sagt: «Das wäre ein Rückschritt in die 70er-Jahre. Wir werden den Chnebel reinhalten.»
Martina Bircher sieht dem Ganzen entspannt entgegen. Ihre Partei wird zusammen mit der EDU und der FDP auf eine bürgerliche Mehrheit im Parlament bauen können. «Wir werden viel in Bewegung bringen.»
Doch zuerst hat sie an diesem Abend drüben im Aarburger Gemeindehaus eine Sitzung der Geschäftsprüfungskommission. Und aktuell: einen Bastelnachmittag mit Sohn James-Henry. Der Kindergärtler ist bereits im Anmarsch.
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