Zum vierten Mal Rugby-WeltmeisterAls Südafrika seine grösste Sternstunde hatte, waren sie Kinder – jetzt jubeln sie selbst
Zweiter WM-Titel in Folge, zweiter Sieg über die All Blacks in einem Final: Die Springboks sind im siebten Himmel. Auf der Tribüne feiert Roger Federer als Edelfan mit.
Selig lächeln sie. Fast ein wenig ungläubig. Umarmen sich immer wieder, wild durcheinander, jeder den andern. Noch lange nach der Pokalübergabe wurde von Tausenden der Übername der Südafrikaner im Stadion skandiert: «Bokke, Bokke.» Aus den Lautsprechern dröhnte «Jerusalema», das bekannteste Lied des südafrikanischen Musikers Kgaogelo Moagi.
Ein paar Meter weiter: leere Blicke, Tränen, Kopfschütteln. Genauso ungläubig. Und der Wunsch, sich irgendwo verkriechen zu dürfen.
Nüchtern betrachtet, hat der Final der Rugby-WM einen Gewinner hervorgebracht und einen Verlierer. So funktioniert Sport. Aber was sich am Samstagabend im Stade de France von Paris zutrug, war mehr als nur ein Sieg und auch mehr als nur eine Niederlage. Nüchtern betrachtet, hat Südafrika 12:11 gegen Neuseeland gewonnen, ja. Aber nüchtern kann diese Affiche kaum betrachtet werden.
Die Springboks (oder eben «Bokke») haben mit dem vierten WM-Titel in einem physisch hochstehenden Kampf auf eindrückliche Weise bewiesen, dass sie den All Blacks in nichts nachstehen. Auch wenn sie vielleicht nicht ganz so ruhmreich wahrgenommen werden wie der berühmte Gegner. Auch wenn er in den Direktduellen immer noch klar vorne liegt.
Aber im Unterschied zum Erzrivalen hat Südafrika noch kein WM-Endspiel verloren, ist jetzt alleiniger Rekordhalter – und so etwas wie der Endgegner für die erfolgsverwöhnten All Blacks an Weltmeisterschaften: Nach 1995 war es deren zweite Finalniederlage im Direktduell. Roger Federer, dessen Mutter Lynette aus Südafrika stammt, sah den Triumph mit seiner Familie von der Tribüne aus. Ihn verbindet eine Freundschaft mit Springboks-Captain Siya Kolisi, er hat ihm auch schon die Schweiz gezeigt.
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Der Finalsieg von 1995, kurz nach dem Ende der Apartheid und völlig überraschend errungen, hat viel ausgelöst in Südafrika. Die heutige Spielergeneration hat die Heim-WM im Kindesalter erlebt. «Es hat mir und vielen anderen eine Tür geöffnet», sagt Kolisi. Mit seiner Herkunft steht er sinnbildlich für dieses Team.
Der 32-Jährige, aufgewachsen in problematischen Verhältnissen in einem Township des ehemaligen Port Elizabeth (heute Gqeberha) hofft, dass das nun wieder geschieht. «Es läuft vieles falsch in unserem Land», sagte er nach dem Spiel. «Aber wir als Mannschaft haben die Möglichkeit, die Menschen zu inspirieren. Nicht nur im Sport, generell. Das ist ein Privileg. Da, wo ich herkomme, träumt man nicht davon, es eines Tages dorthin zu schaffen, wo ich jetzt bin.»
In seinem Fall hätte es allerdings auch anders ausgehen können. In der ersten Halbzeit war Neuseelands Captain Sam Cane für ein gefährliches Tackling vom Platz gestellt worden. Nie zuvor hatte ein Spieler in einem WM-Final Rot gesehen. Kaum war die zweite Halbzeit angebrochen, drohte auch Kolisi ein Platzverweis. Er sah wegen eines harten Zweikampfs Gelb, im Rugby kann dies nachträglich in Rot umgewandelt werden.
«Ich war nervös, aber glaubte schon, nicht Rot verdient zu haben», gab er hinterher zu Protokoll, und tatsächlich: Kolisi durfte weiterspielen. Bei den neuseeländischen und (vermeintlich) neutralen Fans sorgte dies für Unmut. Sie pfiffen und buhten Kolisi bis zur Pokalübergabe aus. Er blieb würdevoll.
So war das mit Südafrika an dieser WM 2023 in Frankreich: Am Ende ging es gut, irgendwie. Im Viertelfinal, Halbfinal und Final gewannen die Springboks je mit nur einem Punkt Vorsprung (29:28 gegen Frankreich, 16:15 gegen England, nun 12:11). Im Halbfinal mussten gar 78 Minuten vergehen, ehe Südafrika erstmals überhaupt in Führung ging. Jetzt im Final konnten die Springboks keinen Try legen, ihnen mussten also die vier Straftritte von Handré Pollard genügen. Im Gegensatz zu den neuseeländischen Kickern blieb er makellos.
«Ich kann mir gar nicht vorstellen, was jetzt zu Hause los ist», sagte Cheftrainer Jacques Nienaber im Anschluss an den Final. «62 Millionen Menschen standen geschlossen hinter uns, und wir haben jedes Bisschen dieser Energie gespürt. Sie hat uns während des gesamten Turniers angetrieben.»
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