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Südafrikas Rugby-Gesicht
Siya Kolisi, vom Stripclub auf die grosse Bühne

South Africa's flanker and captain Siya Kolisi reacts after victory in the France 2023 Rugby World Cup quarter-final match between France and South Africa at the Stade de France in Saint-Denis, on the outskirts of Paris, on October 15, 2023. (Photo by FRANCK FIFE / AFP)
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Siyamthanda Kolisi war keine 10 Jahre alt, als er erstmals Alkohol trank und Benzin schnüffelte. Mit 12 sah er, wie ein Mann zu Tode gesteinigt wurde. Er erlebte, wie seine Mutter auf dem Heimweg verprügelt wurde und Zähne verlor.

Als Bub in einem Township bei Port Elizabeth litt er oft an Hunger. Der Mutter, die ihn mit 16 bekam, und der Grossmutter, bei der er den grössten Teil aufwuchs, fehlten zwischendurch selbst die 50 Rand, um die jährlichen Schulgebühren für ihn zu bezahlen. 50 Rand sind keine zweieinhalb Franken.

Vor zwei Jahren hat Kolisi seine Biografie vorgestellt: «My Truth. My Story», meine Wahrheit, meine Geschichte. «Mir ist bewusst, dass es eine typisch südafrikanische Geschichte ist», sagt er. Aus dem kleinen Bub ist ein Brocken geworden, 1,88 m gross, 105 Kilo schwer, einer der Wagemutigen, die sich auf dem Rugbyplatz im Gedränge so wohlfühlen. Und noch mehr: Er ist das Gesicht des südafrikanischen Rugby-Teams. Als Captain führt er es am Samstagabend in den WM-Halbfinal gegen England.

Vom Ausrutscher erholt

Für Kolisi ist das ein besonderer Gegner. England steht für die Meilensteine in seiner Karriere: für sein erstes Spiel als Captain der Springboks, für den Triumph im Final der WM vor vier Jahren.

Einen kleinen Ausrutscher haben sich die Boks auf dem Weg bis zum Wiedersehen mit den Engländern geleistet, das war die Niederlage im zweiten Gruppenspiel gegen Irland. Aber wie sie dann in einem begeisternden Viertelfinal den Gastgeber Frankreich 29:28 besiegten, war ein Zeichen alter Stärke. Und Ausdruck dafür, dass es bei ihnen immer um viel mehr geht als nur um das Spiel mit dem Ei. «Es geht nicht nur um uns», sagt Kolisi, «es geht um die Leute daheim. Das treibt uns an.»

Paris , France - 15 October 2023; South Africa captain Siya Kolisi celebrates with supporters after his side's victory in the 2023 Rugby World Cup quarter-final match between France and South Africa at the Stade de France in Paris, France. (Photo By Harry Murphy/Sportsfile via Getty Images)

Die Geschichte der Springboks ist gerne einmal mit Symbolik überladen. Das gehört bei ihnen offensichtlich einfach dazu, seit sie 1995 erstmals an einer WM teilnehmen durften. Damals war die Apartheid abgeschafft und Nelson Mandela nach 27 Jahren im Gefängnis zum Staatspräsidenten gewählt worden. Das Turnier auf südafrikanischem Boden entdeckte er als Chance, die Regenbogennation zu versöhnen: die Schwarzen, die zwar 80 Prozent der Bevölkerung ausmachen, mit den Weissen, die sie über Jahrzehnte unterdrückt hatten.

Mandelas Plan war mutig, weil Rugby seit jeher der Sport der Weissen ist. Er ging auf, weil die «Boks» am Ende die Übernation Neuseeland besiegten und Weltmeister wurden. Seit jenem Tag im Ellis Park von Johannesburg ist die Nummer 6 eine ikonische Nummer im südafrikanischen Rugby. Francois Pienaar trug sie als Captain einer bis auf eine Ausnahme weissen Mannschaft und Mandela als Zeichen der Verbundenheit mit ihr.

le capitaine de l'équipe de rugby d'Afrique du Sud, François Pienaar (D) est félicité par le Président de la République Sud-africaine, Nelson Mandela (G), après la victoire de son équipe en finale de la Coupe du Monde de Rugby face à la Nouvelle-Zélande le 24 juin 1995 à Johannesburg.South African rugby team captain, Francois Pienaar (R), is congratulated by South African President Nelson Mandela (L) after South Africa won the Rugby World Cup final against New Zealand 24 June 1995 in Johannesburg.

Kolisi war damals vier Jahre alt. Mit 12 wurde er auf einem staubigen Platz in Zwide, dem Township von Port Elizabeth, beim Rugbyspielen entdeckt. Er wurde in die Grey School aufgenommen, eine renommierte Rugby-Schule. 15 Kilometer lagen zwischen der Armut und dem Aufbruch für Kolisi.

Er sprach nur Xhosa, eine der vielen Sprachen in Südafrika, und vielleicht zwei Worte Englisch. Das musste er erst lernen, wie er überhaupt lernen musste, sich auszudrücken. 2013 wurde er Nationalspieler. Aber gut war deshalb längst nicht alles in seinem Leben. Er begann sich im Alkohol zu verlieren, er trank, wenn er glücklich war, er tat es, wenn er traurig war. Das Trinken sollte helfen, seiner schmerzhaften Vergangenheit zu entkommen.

Am 9. Juni 2018 lief er gegen England erstmals als Captain auf. Jetzt war er der Mann mit der 6 auf dem Rücken, als erster Schwarzer. Der Aufstieg brachte ihn noch immer nicht weg von seinen Problemen. Selbst Anfang 2019 waren sie akut. Er war verheiratet und gab sich als gläubiger Christ aus, trotzdem hing er in Stripclubs herum und liess sich mit anderen Frauen ein.

Die Botschaft eines Captains

Erst auf Anraten seiner Frau suchte er sich Hilfe bei einem christlichen Mentor, der ihm half, sich von seinen Dämonen zu befreien. Im folgenden November war er der Captain, der mit Südafrika den dritten WM-Titel nach 1995 und 2007 feierte. Auch in diesem Final ging es um mehr als nur um das Spiel selbst, sondern auch um die Hoffnung, die eine Nation in wirtschaftlich und gesellschaftlich äusserst schwierigen Zeiten aus einem Erfolg der Boks schöpfen kann. 

Vier Jahre später ist diese Nation nicht wirklich weiter. So wenig wie die Fussball-WM 2010 etwas nachhaltig verändert hat, so wenig hat es der Gewinn der Webb-Ellis-Trophäe getan. Die Arbeitslosigkeit liegt inzwischen bei 35 Prozent, die Korruption grassiert, wie es die Rassenspannungen weiterhin gibt. Neben der Energiekrise trifft nun auch eine Wasserkrise das Land schwer. Allein in Johannesburg fehlen 2 Milliarden Liter Wasser, täglich.

Kolisi kennt diese Probleme, er hat nicht vergessen, wo er selbst herkommt. Darum berichtet er nach dem Sieg gegen Frankreich aufgeregt davon, wie viel Unterstützung sie während der WM von den Menschen daheim spüren würden. Das prägt seine Botschaft, die er an seine Teamkameraden hat: «Man sollte nie nur spielen, um eine Gruppe zu vertreten. Man kann nicht spielen, um der beste schwarze Spieler oder der beste weisse Spieler zu sein, um eine Gemeinschaft anzusprechen. Man muss spielen, um für jeden Südafrikaner der Beste zu sein.»

Und ein Zusatz muss bei ihm wohl einfach sein: «Wir repräsentieren etwas viel Grösseres, als wir uns vorstellen können.»