Stichwahlen in ArgentinienFür viele ist es eine Wahl des geringeren Übels
Der Peronist Sergio Massa und der libertäre Javier Milei liegen vor der Entscheidung am Sonntag fast gleichauf. Massa setzt auf grosszügige Sozialzahlungen, Milei auf eine Schocktherapie.
Argentinien steht vor einer Richtungswahl, der wohl wichtigsten seit der Rückkehr zur Demokratie vor 40 Jahren. In der Stichentscheidung am kommenden Sonntag treten zwei Männer gegeneinander an, die ein diametral anderes Programm verfolgen.
Der libertäre Populist Javier Milei will den Staat massiv zurückfahren, mehrere Ministerien und die Zentralbank abschaffen. Den argentinischen Peso will er durch den US-Dollar ersetzen, was einer wirtschaftlichen Schocktherapie gleichkäme (lesen Sie hier mehr zu Mileis Programm). Der 53-Jährige tritt gegen Sergio Massa an, den amtierenden Wirtschaftsminister der linken Regierung. Dieser will weiter einen starken Staat mit grosszügigen Sozialtransfers und verspricht sanfte Reformen.
Exzentrischer Quereinsteiger gegen etablierte Grösse
Auch das Auftreten der beiden könnte sich nicht stärker unterscheiden. Milei sieht mit zerstrubbelten Haaren und der schwarzen Lederjacke ein bisschen aus wie ein Fussballprofi aus den 1970er-Jahren. Der ehemalige Wirtschaftsprofessor ist ein politischer Quereinsteiger, der mit derber Sprache und Slogans wie «Die Kaste hat Angst» oder «alle sollen abhauen» auf Stimmenfang geht. An Wahlkampfveranstaltungen fuchtelt Milei oft mit einer Kettensäge rum. Sie sollte symbolisieren, wie er den Staat zerlegen würde.
Massa hingegen ist seit Jahrzehnten eine Grösse in der argentinischen Politik. Der 51-Jährige hat Jura studiert, war Bürgermeister von Tigre, einer vergleichsweise wohlhabenden Stadt im Ballungsraum von Buenos Aires, und von 2008 bis 2009 in der linken Regierung von Cristina Kirchner. Seit Mitte vergangenen Jahres ist er Wirtschaftsminister von Argentinien. Er verkauft sich als pragmatischer Steuermann, der Argentinien in schweren Zeiten stabilisieren wird.
Ein Land am Abgrund
Der zukünftige Präsident steht vor einer fast unlösbaren Aufgabe. Die jährliche Inflation beträgt fast 143 Prozent. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut. Die Jugend ist frustriert, viele wollen auswandern.
Für die Misere ist Massa als aktueller Minister zumindest mitverantwortlich. Er versucht die Stichwahl zu einer Abstimmung «Für oder gegen Milei» zu machen. Werde er gewählt, bleibe Argentinien demokratisch. Gewinne Milei, drohe das Land in den Autoritarismus abzudriften.
Angesichts von Krise und Misere verspricht Massa Steuererleichterungen, Hilfsgelder und Subventionen. Schon in den vergangenen Wochen griff er in die Staatskasse, um pünktlich vor der Stichwahl Gelder auszuzahlen, die die Inflation abfedern sollen.
Ob diese Strategie verfängt, ist offen. Die Umfragen sehen mal den einen, dann den anderen Kandidaten vorne. Als zuverlässig gelten sie ohnehin nicht. Im ersten Wahlgang prognostizierten die meisten Demoskopen einen Sieg Mileis. Tatsächlich gewann Sergio Massa dann den ersten Wahlgang – 6,7 Prozentpunkte vor seinem Widersacher.
Konservative für Milei
Eine Schlüsselrolle kommt jetzt der Wählerschaft der mit 23 Prozent drittplatzierten Patricia Bullrich zu. Die Konservative empfiehlt Milei zur Wahl. Tatsächlich weisen die Programme Bullrichs und Mileis Programm einige Gemeinsamkeiten auf: Beide wollen defizitäre Staatsbetriebe privatisieren, die Staatsquote senken, die Wirtschaft deregulieren und eine strikte Budgetdisziplin einführen.
Die Frage ist, ob die konservative Wählerschaft tatsächlich zu einem Exzentriker wie Milei überlaufen wird, der einige kaum vermittelbare Positionen vertritt. Er hält unter anderem den Klimawandel für eine «Farce der Linken» und will den Organhandel legalisieren.
Milei gibt sich vergleichsweise moderat
Um bei der konservativen Wählerschaft zu punkten, hat sich Milei zuletzt aber zurückgenommen. Er spricht jetzt gerne und abstrakt vom «Wandel», den Argentinien benötige. Noch im ersten Wahlgang hatte Milei vor nichts und niemandem Halt gemacht. Er bezeichnete seine Gegner als Parasiten und Papst Franziskus als «linken Hurensohn», weil er angeblich dem Kommunismus nahestehe.
Im letzten TV-Duell vor den Wahlen diese Woche konnte Massa zuletzt einige Punkte landen. Er drängte Milei in die Defensive, indem er dessen Wechsel vom Radikalen zum Gemässigten thematisierte. Massa enthüllte in der Debatte auch, dass Milei vor rund 30 Jahren ein halbjähriges Praktikum bei der Zentralbank absolviert hatte, das nicht verlängert wurde. Das würde auch Mileis Hass auf die Zentralbank begründen. «Ich verstehe deine Wut auf die Zentralbank, weil du dich abgelehnt gefühlt hast», so Massa. Milei sagte, er habe sich damals nicht mehr für die Aufgaben interessiert.
Es war einer der wenigen Höhepunkte in einem inhaltlich mageren Duell, in dem sich die beiden Kandidaten zwei Stunden lang als Lügner und Versager beschimpft hatten. Massa oder Milei: Für viele Wählerinnen und Wähler stellt das die Wahl des geringeren Übels dar.
Fehler gefunden?Jetzt melden.