Reportage vor StichwahlPer Zug durch Argentinien – solange das noch geht
Auf Gleisen quer durch Argentinien? Sollte Javier Milei am Sonntag zum Präsidenten gewählt werden, könnte das schnell wieder vorbei sein. Also, bitte einsteigen.
Bevor es richtig losgeht, geht es erst mal in den Rückwärtsgang. Sonntagmittag, Punkt zwölf Uhr. Neben dem alten Bahnhofshäuschen der Station Palmira, ganz im Westen von Argentinien, weht die Nationalflagge an einem Fahnenmast, weiss und himmelblau. Besucher stehen am Gleis, winken, filmen, fotografieren, während die Diesellok CKD8H0003 sich langsam in Bewegung setzt.
Quietschend und knirschend schiebt sie ein halbes Dutzend Waggons vor sich her, ein paar Hundert Meter weit, dann bleibt sie stehen, dröhnt und stampft, nach einer kurzen Pause beginnt sie in die andere Richtung zu fahren, fast so, als habe sie noch mal Schwung holen wollen für das, was vor ihr liegt: tausend Kilometer, von den Anden fast bis zum Atlantik.
Es gab mal Zeiten, in denen war die Eisenbahn der ganze Stolz dieses Landes. Die ersten Gleise wurden schon ein paar Jahrzehnte nach der Staatsgründung vor zweihundert Jahren verlegt, erst vor allem, um die Reichtümer des Landes abzutransportieren, Fleisch, Leder, Wolle, Weizen, Zucker, Gold und Silber. Anfang des 20. Jahrhunderts war Argentinien dann eines der reichsten Länder der Welt, pompöse Bahnhöfe wurden gebaut, mit Säulen und Stuck, mehr Paläste als Wartehallen.
Die Eisenbahn war ein Motor des Fortschritts, Symbol des Aufstiegs. Heute aber steht sie vor allem für eines: den Niedergang des Landes.
Wurden früher ganze Züge in Argentinien gebaut, in riesigen Werkstätten, werden sie heute aus China importiert, so wie auch die Diesellok CKD8H0003, ein blau-weiss gestrichener Klotz, der wegen der maroden Gleise oft kaum schneller als Schritttempo fahren kann. Vor den Fenstern am Fahrerhaus: Gitter, zum Schutz, falls mal wieder jemand mit Steinen wirft, aus Spass, vielleicht aber auch aus Frust: 40 Prozent der Menschen in Argentinien leben heute unter der Armutsgrenze, die Inflation ist dreistellig.
Am kommenden Sonntag stimmt das Land ab über einen neuen Präsidenten, in einer Stichwahl, die schon jetzt als wichtigste seit der Rückkehr zur Demokratie vor vierzig Jahren gilt. Es treten an: Sergio Massa, der amtierende Wirtschaftsminister der linken Regierung. Angesichts von Krise und Misere verspricht er Steuererleichterungen, Hilfsgelder und Subventionen, noch mehr, als es ohnehin schon gibt, für Arme, Alte und Arbeitslose, für Gas, Strom und Treibstoff, aber eben auch für billige Bahntickets, neue Linien, alten Glanz.
Javier Milei, der zweite Kandidat, will genau das Gegenteil, weniger Staat, mehr Markt, Kapitalismus statt Caritas. Milei nennt sich «Anarcho-Kapitalist». In Talkshows verteidigt er den Handel mit Organen oder fordert freien Zugang zu Schusswaffen. Die Landeswährung Peso bezeichnet er als «Exkrement». Er will sie vollständig ersetzen durch den US-Dollar. Politiker sind für ihn «Untermenschen» und der Staat eine «kriminelle Organisation». Milei will öffentliche Bauvorhaben stoppen, und die Eisenbahn soll nicht ausgebaut, sondern privatisiert werden, so wie alle Staatsunternehmen.
Wollte man im Bild bleiben, könnte man sagen: Argentinien steht vor einer Weichenstellung. Darum: eine Erkundungsfahrt durchs Land, mit dem Zug von Palmira bis nach Buenos Aires, einmal quer durch Argentinien.
Erst im Juni wurde die Strecke wieder eingeweiht, nach drei Jahrzehnten Stillstand. Früher brauchten die Züge fünfzehn Stunden für die Fahrt, heute dreissig. Fast eineinhalb Tage für etwas mehr als tausend Kilometer, quer durch den Kontinent. Warum tut man sich so etwas an? «Fragen meine Freundinnen auch immer», sagt Susanna Rodriguez, dabei sei die Antwort doch ganz einfach: «Ich habe Zeit, aber kein Geld.»
Rodriguez ist 67 Jahre alt, sie hat graue Haare, hinter ihren Brillengläsern sind kleine Falten zu sehen, wenn sie lacht. In Palmira ist sie in den Zug gestiegen, morgen früh um acht Uhr wird sie wieder aussteigen, in Rufino, einer kleinen Stadt, fast genau in der Mitte der Strecke. Ihre Schwester hat Geburtstag, sie wird siebzig, da wollte sie nicht fehlen, und das, obwohl sie sich vor ein paar Tagen eine Rippe gebrochen hat. «Wird schon gehen», sagt sie und rückt sich in ihrem Sitz zurecht.
Natürlich: Sie hätte auch den Bus nehmen können, die fahren auch nicht nur zweimal im Monat, wie der Zug, sondern zweimal am Tag – und wer mittags einsteigt, ist abends da. Aber allein die Hinfahrt sagt Rodriguez, koste 17'000 Peso, etwa 43.50 Franken, das ist ein Zehntel ihrer Rente. «Unbezahlbar», sagt Rodriguez. Für die Zugfahrkarte musste sie gerade mal 3000 Peso ausgeben, kaum mehr, als ein paar Steaks heute beim Metzger kosten: «Stell dir das mal vor.»
Gleise verrosten, Züge fielen aus
Sie werde also auch für die Rückfahrt wieder die Bahn nehmen. Kommendes Wochenende ist sie dann wieder zu Hause, pünktlich zur Wahl. Rodriguez seufzt. So schwer wie jetzt sei ihr die Entscheidung noch nie gefallen, wen sie wählen soll. «Ich bin ja schon älter», sagt sie, sie erinnert sich noch gut daran, dass viele Vorschläge, die Milei heute macht, schon in den Neunzigern ausprobiert wurden.
Die Massenprivatisierungen zum Beispiel, die der rechtslibertäre Kandidat heute vorschlägt, gab es damals schon: Staatliche Firmen wurden verkauft, von Ölunternehmen über Banken bis zur Eisenbahn.
Gelder wurden gestrichen, Gleise verrosteten, Züge fielen aus. Die Bahn wurde erst zum Ärgernis, dann wieder privatisiert, mit dem Versprechen, den Service zu verbessern. Am Ende aber wurden ganze Strecken stillgelegt, auch die zwischen Buenos Aires und Mendoza. Sie habe damals schon nicht mehr in Rufino gewohnt, sagt Rodriguez. Jedes Mal, wenn sie ihre Familie sehen wollte, habe sie statt einer Zugfahrkarte eine Busfahrkarte kaufen müssen. Teuer sei das gewesen, sagt sie. «Aber bald war das Geld ja ohnehin nichts mehr wert.»
Während die Regierung massenhaft Staatsfirmen privatisierte, hatte sie 1991 auch die Landeswährung an die der Vereinigten Staaten gekoppelt. Die eigene Währung wurde also nicht komplett abgeschafft, so wie es jetzt Milei fordert, immerhin aber für gleichwertig erklärt. Für einen Austral und später einen Peso bekam man bei jeder Bank immer einen US-Dollar. Garantiert.
Die Preise, die davor wegen der auch damals schon hohen Inflation von Woche zu Woche in immer neue Höhen geklettert waren, blieben endlich gleich. «Monatelang», sagt Rodriguez, es war wie ein kleines Wunder. Markenkleidung aus den USA war billig, und die Flüge nach Miami, London oder Paris waren voll besetzt mit Argentiniern, die nur mal zum Shoppen flogen.
Rodriguez lehnt sich zurück in ihrem Sitz. Wen sie wählen wird? Sie seufzt. «Am liebsten: niemanden.»
Bald aber geriet die Handelsbilanz aus dem Gleichgewicht. Argentinien brauchte mehr Devisen, als es durch Exporte einnahm. Die Regierung versuchte, die Lücke mit Schulden auszugleichen, immer mehr, so lang, bis 2001 die Geldgeber, allen voran der Internationale Währungsfonds, den Hahn zudrehten. Es kam zum Crash, Hunderttausende verloren ihre Ersparnisse. Die Pesoscheine? Waren kaum mehr wert als buntes Papier.
Rodriguez erinnert sich an Massendemonstrationen und Tauschmärkte. Damals bekam man ein paar Kilo Mehl für ein gebrauchtes Hemd. «Schlimme Zeiten», sagt sie. Und natürlich habe sie Angst, diese Zeiten könnten wiederkommen, wenn Milei all das wiederholt, was schon in den Neunzigern nicht funktioniert hat. Andererseits: «So wie jetzt kann es doch auch nicht weitergehen.»
Rodriguez wohnt heute in einer privaten Wohnanlage, umgeben von Mauern und Stacheldraht, in einem Haus, das sie sich selbst erarbeitet hat. «Ich hatte Glück», sagt sie. Nach der Krise von 2001 fand sie einen Job als Leiterin einer Schulkantine, bald ging es mit Argentinien wieder aufwärts, vor allem auch dank eines Rohstoffbooms.
2006 zahlte die damalige linke Regierung die gesamten Schulden beim Internationalen Währungsfonds zurück, 2015 verstaatlichte sie dann abermals die Eisenbahn. Millionen wurden in Züge und Strecken gepumpt, auch in Subventionen und Sozialprogramme. Als das Geld dann nicht mehr reichte, nahm die Regierung Schulden auf, immer neue. Wieder stiegen die Inflation, die Armut, die Wut. Ein ewiges Auf und Ab, Hin und Her, Vor und Zurück.
Rodriguez lehnt sich zurück in ihrem Sitz. Wen sie am Sonntag wählen wird? Sie seufzt. «Am liebsten: niemanden», sagt sie und zieht den Vorhang vor ihrem Fenster mit einem Ruck zu, zu grell die Sonne, zu bitter die Realität.
In den Waggons riecht es jetzt nach Essen. Manche haben belegte Brote mitgebracht, andere Empanadas, Teigtaschen, gefüllt mit Fleisch oder Maisbrei. Draussen wird es dunkel, um 23 Uhr gehen im Zug die Lichter aus, und dann, am nächsten Morgen, ist die karge Steppe verschwunden, stattdessen Felder und Weiden, die grüne Monotonie der Pampa.
Zwei Studenten steigen zu in Junin, knapp einen Tag ist der Zug da schon unterwegs. Violetta Azar und Caetano Almada sind beide neunzehn Jahre alt und auf dem Weg nach Buenos Aires, zur Universität. Eigentlich aber kommen sie aus Lincoln, einer Kleinstadt im Landesinneren, 45'000 Einwohner, berühmt für Karneval, Käse und Landwirtschaft.
Natürlich, die Krise spüre man auch bei ihnen, aber Arme, Bettler oder Obdachlose, so wie in Buenos Aires, das gebe es in Lincoln nicht, sagt Violetta Azar und greift in eine Chipstüte. «Schau», sagt Caetano Almada und deutet durch das Fenster: grasende Rinder, Mais, Soja. «Dieses Land könnte so reich sein», sagt er, das Problem seien einfach die Politiker. «Alle korrupt, alles Diebe», sagt Almada.
In der ersten Runde haben beide darum Milei gewählt, und am Sonntag wollen sie dasselbe tun. Dass er auch das Geld für Forschungsinstitute streichen will? Stört sie nicht, ebenso wenig die Tatsache, dass er die Verbrechen der letzten Militärdiktatur verharmlost, den Papst als «lausigen Linken» beschimpft und strikt gegen Abtreibung ist. Man dürfe nicht alles ernst nehmen, was Milei sagt, sagt Almada. Der Dollar, das Sparprogramm, die Privatisierungen: «Mal sehen, ob das alles wirklich so kommt.»
Eine Verabschiedung – für immer?
Was aber, wenn doch? Müssten sie nicht zum Beispiel viel mehr Geld für ihr Zugticket bezahlen, wenn Milei die Wahlen gewinnt und die Subventionen für die Bahn streicht? «Kann schon sein», sagt Azar, aber dann würde es ja auch der Wirtschaft besser gehen und alle hätten mehr Geld. «Wäre doch schön, oder?», sagt Almada und schüttet die letzten Reste aus der Chipstüte auf seine Hand. Je näher der Zug Buenos Aires kommt, desto voller wird er.
Es ist Nachmittag, als der Zug die ersten Vororte von Buenos Aires passiert, und dann, pünktlich um 17.40 Uhr, fährt er ein in den Bahnhof von Retiro, einen der Hauptbahnhöfe der Hauptstadt, rechts verspiegelte Hochhäuser, links die Villa 31, einer der grössten Slums Argentiniens.
Die Bremsen quietschen, zischend gehen die Türen auf. Am Ausgang steht ein Kondukteur. «Hasta pronto», sagt er, bis zum nächsten Mal. Und es wird nicht wirklich klar, ob das nur eine Verabschiedung war, eine Frage – oder doch ein Wunsch.
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