Stichwahl in ArgentinienZwischen Wut, Angst und Hoffnung
Die Wahlen in Argentinien galten schon im Vorfeld als die wichtigsten in der jüngeren Geschichte des Landes. Nun ist klar: Es bleibt spannend. Der rechte Javier Milei muss in eine Stichwahl gegen Regierungskandidat Sergio Massa.
Überraschung bei der Präsidentschaftswahl in Argentinien: Der Kandidat der linksperonistischen Regierung, Sergio Massa, liegt nach Auszählung von mehr als 95 Prozent der Wahlzettel mit 36 Prozent der Stimmen auf dem ersten Platz. Nur knapp 30 Prozent der Wähler haben sich dagegen für den rechts-libertären Javier Milei entschieden, dabei galt dieser zuvor eigentlich als klarer Favorit. Nun müssen beide Kandidaten am 19. November in eine Stichwahl.
Für Argentinien heisst das Ergebnis vier weitere Wochen des Wartens und der Unsicherheit – dabei ist die Stimmung im Land ohnehin schon extrem angespannt.
Da ist einmal die Wirtschaft: Die Inflation liegt derzeit bei 138 Prozent und 40 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze, jeder zehnte Argentinier ist sogar notleidend. Hinzu kommen eine ganze Reihe von politischen Skandalen, von Vetternwirtschaft bis Korruption. Viele Wähler, so schien es, hatten sich darum abgewendet von den traditionellen Parteien und ihren Politikern.
Grösster Profiteur dieser Entwicklung war der rechts-libertäre Javier Milei: Bis vor ein paar Jahren war der 53-Jährige den meisten Argentiniern höchstens durch seine Auftritte im TV bekannt. Dort erzählte er in Talkshows von seinen fünf geklonten Mastiff-Hunden oder er dozierte über Tantra-Sex. Milei bestreitet den menschengemachten Klimawandel und vertritt lautstark radikal-libertäre Thesen von «Markt statt Staat».
Milei will Kettensägen-Plan gegen Ministerien
Die Regierung, glaubt Milei, solle sich so weit wie möglich aus dem Leben der Menschen heraushalten. Im Falle eines Wahlsieges verspricht er einen «plan motosierra», einen Kettensägen-Plan, bei dem die Zahl der Ministerien auf ein Minimum zusammengekürzt werden soll, sämtliche staatlichen Firmen privatisiert werden und der US-Dollar die inflationäre Landeswährung Peso ablöst. Milei möchte den Zugang zu Schusswaffen erleichtern und die Strafmündigkeit auf 14 Jahre heruntersetzen. Seine Partei, «La Libertad Avanza», auf Deutsch so viel wie «Die Freiheit schreitet voran», steht dazu in enger Verbindung mit rechten Gruppierungen und Politikern in anderen Ländern der Region. Zu den Wahlen am Sonntag war zur Unterstützung zum Beispiel extra einer der Söhne von Brasiliens rechtsextremem Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro angereist.
Bei den landesweiten und verpflichtenden Vorwahlen Mitte August hatte Milei fast ein Drittel der Stimmen bekommen, mehr als jeder andere Kandidat. Und auch in den Umfragen vor der Wahl stand er fast immer an erster Stelle. Für Milei und seine Anhänger ist das Ergebnis vom Sonntag darum eine Enttäuschung. Es dauerte eineinhalb Stunden, bis sich der rechts-libertäre Politiker vor seinen Anhängern zu Wort meldete: Allein der Einzug in die Stichwahl sei ein Erfolg, sagte Milei, schließlich habe sich seine Partei erst vor wenigen Jahren gegründet. «Es ist beeindruckend, was wir konstruiert haben!» Die nun bevorstehende Stichwahl bezeichnete er als die «wichtigste in 100 Jahren».
Im Sitz der derzeit regierenden linken Regierung und ihrem Parteienbündnis «Unión por la Patria» skandierten die Anhänger von Sergio Massa dagegen am späten Abend «Presidente!» als er die Bühne betrat. Er wolle sich bei allen bedanken, die ihn gewählt haben, sagte dieser. Er wisse, dass darunter viele seien, die unter der schwierigen Situation im Land besonders leiden. "Ich werde euch nicht enttäuschen!», so Massa. Er werde in den folgenden Wochen auch um die Stimmen der Menschen kämpfen, die ihm noch nicht ihre Stimme gegeben hätten: «Ich will eine Regierung für alle Argentinier.»
Sergio Massa ist schon seit Jahrzehnten eine feste Grösse in der argentinischen Politik. Der 51-Jährige hat Jura studiert, er war Bürgermeister von Tigre, einer vergleichsweise wohlhabenden Stadt im Ballungsraum von Buenos Aires, und von 2008 bis 2009 Kabinettsminister während der Regierung von Cristina Fernández de Kirchner.
Steuermann in schwierigen Zeiten
Massa gilt als bestens vernetzt, quer durch alle politischen Parteien, dazu pflegt er auch gute Kontakte in Gewerkschaften, ebenso wie zu Unternehmern. Seine Gegner machen ihn aber auch mitverantwortlich für die katastrophale ökonomische Lage im Land: Seit Mitte vergangenen Jahres ist er Wirtschaftsminister von Argentinien. Bei vielen Wählern scheint Massa es aber geschafft zu haben, sich selbst als pragmatisch-stoischen Steuermann in schwierigen Zeiten zu inszenieren. Vor den Wahlen senkte er massiv die Steuern und verteilte Hilfsgelder an Arme, Arbeitslose und Alleinerziehende. Manche Argentinier dürften sich auch von Milei abgewandt haben, nachdem dieser die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 relativiert und öffentlich den Papst als «Dummkopf» bezeichnet hatte, weil er angeblich dem Kommunismus nahestehe. Mehr als drei Viertel der Argentinier sind nach eigenen Angaben katholisch, und Papst Franziskus selbst ist Argentinier.
Die grosse Frage ist nun, wie sich die Wähler der anderen unterlegenen Kandidaten bei einer Stichwahl verhalten werden, darunter linke Parteien, ebenso wie die klassische Konservative. Gemeinsam machen ihre Wähler etwa ein Drittel der Stimmen aus. Sind sie wütend genug, um Javier Milei zu wählen? Oder ist die Angst vor dem rechts-libertären Kandidaten und seinem radikalen Kettensägen-Plan doch zu gross, weshalb man sich dann – wohl oder übel – doch für Sergio Massa entscheidet?
Kommentatoren kamen im argentinischen Fernsehen am Sonntagabend bei ersten Überschlagsrechnungen auf ein Ergebnis, bei dem sich Milei und Massa in einer Stichwahl mit jeweils einer Hälfte der Stimmen gegenüberstehen könnten. Die folgenden vier Wochen wird sich der Wahlkampf darum wohl noch einmal verschärfen und die Stimmung im Land angespannter werden, ebenso wie die wirtschaftliche Lage.
Am Sonntag, kurz nachdem die Wahllokale in Argentinien um 18 Uhr geschlossen hatten, standen lange Schlangen vor den Tankstellen in Buenos Aires: Viele Autofahrer wollten noch einmal volltanken. Wer weiß schon, was in den kommenden Wochen passiert, mit den Preisen, der Politik und dem Land?
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