Hunderte Millionen Streams Der erfolgreichste Komponist, den niemand kennt
Johan Röhr hat unter 650 Namen über 2700 Lieder auf Spotify veröffentlicht. Dort ist er nun erfolgreicher als Michael Jackson. Warum wollte er anonym bleiben? Und was hat das mit uns zu tun?
Als ihn die schwedische Zeitung «Dagens Nyheter» vor kurzem enttarnte und kontaktieren wollte, mochte er sich nicht auf ein Gespräch einlassen. Johan Röhr, der 47-jährige Musiker, Komponist und Produzent, möchte ein Geheimnis bleiben. Man weiss nur, dass er als Kind in einem Chor sang, an einem Songwettbewerb teilnahm und für mehrere Bands und Fernsehsendungen als musikalischer Leiter auftrat.
Dabei hat der Mann über 2700 Songs allein auf Spotify veröffentlicht. Und das unter 650 verschiedenen Decknamen, darunter Minik Knudsen, Migmei Hsueh, Csizmazia Etel. Mit seinen Kompositionen, die über 600 Millionen Mal gestreamt wurden, hat er auf Spotify mehr Erfolg als Michael Jackson, Britney Spears oder seine schwedischen Kollegen von Abba. Zum Vergleich: Bob Dylan hat gegen 600 Songs geschrieben, Elvis Costello rund 500.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Das wirft mehrere Fragen auf: Wie ist eine solche Menge von Veröffentlichungen möglich? Wieso hält ein Musiker, dessen Werk dermassen an die Öffentlichkeit drängt, dermassen an seiner Anonymität fest? Was sagt das über das Handwerk des Songschreibens aus? Und was hat das alles mit den neuen musikalischen Betriebskanälen zu tun?
Die erste Frage ist am einfachsten zu beantworten. Denn Johan Röhr schreibt weniger Songs – also melodisch, rhythmisch, harmonisch und textlich strukturierte Lieder – als «mood pieces», instrumentale Stimmungsmusik. Sie verbreitet eine verhaltene, von wehenden Keyboardklängen getragene, melancholische Atmosphäre. Das hat eine entspannende Wirkung, bleibt aber künstlerisch wertlos. Es ist eine Musik, die den Raum musikalisch parfümiert, ohne den Hörer zu stören. Ähnlich wie die sogenannte Meditationsmusik setzt sie auf die Wonnen des Wohlklangs. Darum will Röhr wohl anonym bleiben: Er weiss, dass seine Musik zu wenig hergibt; dafür ist sie erfolgreich.
Neu ist das ebenfalls nicht, zudem viel weniger interessant im Vergleich mit seinen Vorbildern Kruder & Dorfmeister oder Aphex Twins. Pionier dieser sogenannten Ambient Music war der britische Nichtinstrumentalist Brian Eno, der in den 1970ern als Produzent von Künstlern wie David Bowie oder den Talking Heads enormen Einfluss auf die populäre Musik nahm. Und mit seinen Solowerken die Funktion der Musik radikal veränderte. Auf Alben wie «Music for Airports», «Here Come the Warm Jets» oder «Another Green World» entwickelte er ebenfalls eine Stimmungsmusik, die allerdings wesentlich komplexer strukturiert war als jene seines heutigen schwedischen Kollegen.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Man hört Johan Röhrs hingetupften Klängen auch den Einfluss der sogenannten kosmischen Musik an, die von deutschen Keyboard-Bands und Künstlern wie Popol Vuh, Ash Ra Temple, Klaus Schulze und vor allem Tangerine Dream in den 1970ern entwickelt worden war.
Wir hören immer trauriger
Dass Röhr mit seiner akustischen Möblierung einen solchen Erfolg hat, hängt wiederum mit den neuen Hörgewohnheiten zusammen, die sich mit den neuen Streamingdiensten etabliert hat. Die Leute hören nicht mehr Songs oder Alben, sondern Playlists, und sie können dabei nach Stimmungen auswählen. Dadurch regrediert die Musik zu einer Tagesbegleitung, eine unaufdringliche Vertonung der Stille, man könnte auch sagen: einer Linderung der Einsamkeit durch Depressionsabwehr.
Diese Entwicklung bestätigt viele aktuelle Studien, wonach die Musik, die wir hören, immer trauriger wird: langsamer, unauffälliger, weicher. Wie T.S. Eliot es in seinem apokalyptischen Gedicht «Hollow Men» 1925 voraussagte: «This is the way the world ends: not with a bang but a whimper.» Nicht mit einem Knall geht die Welt unter, sondern mit einem Wimmern.
Johan Röhr, der klingende Masseur, streichelt uns zu Tode.
Fehler gefunden?Jetzt melden.