Analyse zur Umsetzung der PflegeinitiativeZu spät, am Problem vorbei – diese Lösungen stoppen den Pflege-Exodus nicht
Die Schweiz braucht rasch 40’000 neue Pflegende. Doch die Politik geht die wahren Ursachen des Notstandes nicht an. Jetzt hat sie die Chance, wichtige Weichen zu stellen.

«Die Situation hat sich nicht entschärft.» Das sagt Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Berufsverbands der Pflegefachleute.
Genau zwei Jahre ist es her, dass die Pflegeinitiative angenommen wurde. 61 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sprachen sich für bessere Arbeitsbedingungen in Schweizer Spitälern und Pflegeeinrichtungen aus. Die Pflegenden, die während der Pandemie hart gearbeitet hatten, sollten entlastet werden.
Verbessert hat sich seither aber nicht viel.
Um die 300 Pflegende steigen jeden Monat aus dem Beruf aus. Tausende Stellen im Pflegebereich sind unbesetzt, und es werden laufend mehr. Der Stress bei jenen, die im Beruf verbleiben, nimmt zu. Unter Zeitdruck müssen sie immer mehr Patienten betreuen. Die Schichten sind anstrengend. Und obendrein werden sie oft kurzfristig verschoben. Burn-outs häufen sich.
Dass sich an diesen Zuständen kurzfristig etwas ändert, ist nicht abzusehen. Denn die Politik packt die wahren Ursachen des Missstands nicht richtig an.
Vorschläge bewirken wenig
Die Pflegeinitiative soll in zwei Etappen umgesetzt werden. Die erste Etappe hat das Parlament im Dezember 2022 beschlossen. Es geht um Massnahmen im Bildungsbereich: Fachhochschulen und Höhere Fachschulen sollen mehr Studienplätze anbieten; Studierende sollen finanzielle Unterstützung erhalten.
Das Gesetz greift ab 2024. Umsetzen müssen es die Kantone als Eigentümer der Bildungsstätten. Möglicherweise lassen sich so in Zukunft mehr junge Menschen zu einer Pflegeausbildung animieren. In der Zwischenzeit stagnieren aber die Zahlen: 2023 gab es mehr Abschlüsse, aber weniger Ausbildungsstarts als 2022, berichtet der Verband Bildungszentren Gesundheit Schweiz.
Die Bildungsoffensive wirkt also erst mittelfristig. Und selbst wenn in einigen Jahren mehr Absolventen auf den Markt kommen: Die Arbeit in der Pflege muss genug attraktiv sein, damit diese Arbeitskräfte auch im Beruf bleiben.
Die Vorschläge, die in Vernehmlassung gehen, packen das Problem nicht an der Wurzel an.
Dafür will der Bund in einer zweiten Etappe sorgen. Ein Massnahmenpaket soll die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern. Spitäler sollen strengere Vorgaben bei der Erstellung von Dienstplänen erhalten und mit den Sozialpartnern über grosszügigere Gesamtarbeitsverträge verhandeln. Und darüber hinaus ist ein Monitoring geplant zur Situation des Pflegepersonals.
Diese Vorschläge, die im Frühling 2024 in die Vernehmlassung gehen, sind gut gemeint. Rasche Linderung bringen sie dem überanstrengten Pflegepersonal aber nicht. Und auch sie packen das Problem nicht an der Wurzel an.
Dieses Problem ist im Grunde schnell erklärt. Es gibt von der Gesellschaft auf der einen Seite eine steigende Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen. Die Spitäler und Pflegeeinrichtungen haben auf der anderen Seite aber nicht die Ressourcen, um diese Nachfrage adäquat zu bedienen. So wird das Personal zunehmend überlastet. Das betrifft nicht nur Pflegende, sondern auch Ärzte.
Die Tarife sind zu niedrig
In einem freien Markt würden die Spitäler als Reaktion darauf die Preise erhöhen. So könnten sie höhere Löhne bezahlen, mehr Personal einstellen und bessere Arbeitsbedingungen bieten. Doch der Gesundheitsmarkt ist nicht frei, sondern hochgradig reguliert. Der Staat gibt über weite Strecken die Preise vor – in Form von Behandlungstarifen, an die sich die Spitäler halten müssen.
Diese Tarife sind allerdings, übers Ganze gesehen, schlicht zu niedrig.
Im Kommunismus hätte man gesagt: Das ist ein klassischer Fall von staatlicher Fehlplanung. In einer Marktwirtschaft drückt man sich vorsichtiger aus: Die Rahmenbedingungen sind inadäquat. Doch im Kern geht es um dasselbe. Der Staat verlangt Leistungen, will aber den Erbringern nicht genug Geld zahlen.
Ambulant statt stationär: Das bringt tiefere Kosten – aber es sinken auch die Einnahmen.
Kompliziert wird es erst, wenn man ins Detail geht. Ein wichtiger Grund dafür, dass viele Spitäler in finanziellen Schwierigkeiten stecken, ist die Verschiebung vom stationären in den ambulanten Bereich. Patienten sollen nach Eingriffen seltener über Nacht im Spital bleiben und stattdessen öfter nach Hause gehen.
Diese Verschiebung ist politisch gewollt, da sich damit Kosten sparen lassen. Alle Beteiligten im Gesundheitswesen halten sie für sinnvoll – Spitäler, Ärzte, Versicherer und auch Pflegende. Übernachten weniger Patienten im Spital, so mindert dies den Aufwand und potenziell den Stress beim Pflegepersonal.
Seit einigen Jahren findet diese Verschiebung auch statt. Doch mit ambulanten Patienten verdienen die Spitäler weniger Geld als mit stationären Patienten. So bleiben unter dem Strich weniger finanzielle Mittel, um die Angestellten zu bezahlen. Aus Sicht des Spitalverband H+ ist deshalb klar, dass sich die Pflegeinitiative ohne Anpassungen an den Tarifen nicht umsetzen lässt.
Die Politik muss wichtige Weichen stellen
Immerhin hat es die Politik jetzt in der Hand, die Weichen richtig zu stellen. Das Parlament will in der Wintersession die sogenannte Einheitliche Finanzierung zu Ende beraten. Es will so den Fehlanreiz beseitigen, dass die Kantone bloss den stationären Spitalbereich mitfinanzieren, nicht aber den ambulanten.
Zudem liegen zwei neue Tarifwerke beim Bundesrat zur Genehmigung vor: der Einzelleistungstarif Tardoc und die sogenannten Ambulanten Fallpauschalen. Sie sollen den veralteten Tarmed-Tarif ablösen, über den Ärzte und Spitäler seit 2004 ihre ambulanten Leistungen abrechnen. Dies birgt die Chance, dass die Spitäler ab 2025 mehr Geld erhalten – wenn die Politik das wirklich will.
Bis 2029 braucht es wegen der Alterung fast 40’000 zusätzliche Arbeitskräfte in der Pflege.
Doch selbst in diesem Fall vergeht Zeit, bis der Pflegeberuf wieder ein besseres Image bekommt. Nötig wäre das unbedingt: Bis 2029 braucht es wegen der demografischen Alterung fast 40’000 zusätzliche Arbeitskräfte in der Pflege.
In der Zwischenzeit sind die Spitäler gefordert. Manche haben bereits reagiert und die Arbeitsbedingungen verbessert, etwa mit zusätzlichen Ferientagen.
Flexible Arbeit in Pools
Statt fix auf einer Abteilung können Pflegende neu an vielen Orten auch in Pools arbeiten. Sie geben dort ihre möglichen Arbeitstage und -zeiten an und werden dann innerhalb eines Spitals oder über einen Verbund von Spitälern hinweg jeweils dort eingesetzt, wo der Bedarf am grössten ist. Dadurch verbessert sich im Alltag der Pflegenden vor allem die zeitliche Planbarkeit.
Entstanden sind diese Pools vor allem deshalb, weil auf dem Arbeitsmarkt ein anderer Bereich boomt: Temporärjobs. Diese sind bei Pflegenden zunehmend beliebt, weil sie eine flexiblere Zeiteinteilung als Festanstellungen bieten. Rund zwei Prozent aller Pflegekräfte arbeiten inzwischen temporär.
Manche Politiker wollen Temporäranstellungen gesetzlich einschränken. Doch solche Verbote bringen den Pflegenden nichts, wenn sich ihre Situation in den kommenden Jahren weiter zuspitzt. Im Gegenteil: Solange der Staat bei der Regulierung des Gesundheitswesens versagt, braucht es marktwirtschaftliche Alternativen, die zumindest einen Teil der Probleme lösen.
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