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Sylt und Studentenproteste
«Doxing»: So läuft die unheimliche Selbstjustiz ab

Immer weitere Kreise beteiligen sich an dem, was einst in den Bereich des Netzaktivismus fiel: Bild einer Demonstration in Deutschland.
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«Deswegen liebe ich Social Media», schreibt die junge Frau auf Tiktok über ein Video, in dem sie lächelnd in die Kamera blickt. «In weniger als 24 Stunden alle Personen von dem Sylt-Video herausgefunden. Wir könnten alle Privatdetektive werden.»

Die Suche ist zu Ende, die Gesuchten sind identifiziert. Arbeitgeber wurden verständigt, Kündigungen ausgesprochen. Offensichtlich wohlhabende Menschen hatten in einem Club auf Sylt «Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!» zu den Beats des Songs «L’Amour Toujours» gegrölt. Und dann, als eine Menge Leute wissen wollten, wie die Gröler heissen, da legten die Fahnder wieder «L’Amour Toujours» unter die Videos.

Das ist kein Shitstorm mehr

Was sich hier abspielte, ist ein Verfahren, das zunehmend die Funktionsweise der digitalen Öffentlichkeit bestimmt: Das ist kein Shitstorm mehr, wie man das in Zeiten nannte, als es noch so etwas wie digitale Binnengewitter und eine davon getrennte analoge Öffentlichkeit gab – sondern: Doxing.

Der Begriff stammt aus den Frühzeiten des Internets, als anonyme Hacker sich in Usenet-Gruppen – dem Social Web jener Zeit – gegenseitig in «flame wars» beleidigten und bekriegten. Die letzte Eskalationsstufe bestand darin, den Kontrahenten zu «doxen»: aus dem Netz zusammengeklaubte Dokumente (docs, daher der Name), die Rückschlüsse über die Person hinter dem gegnerischen Pseudonym zuliessen, zu veröffentlichten.

2014, in der sogenannten Gamergate-Affäre, attackierten antifeministische Trolle eine Computerspiel-Journalistin. Sie war gedoxt worden, Leute schickten Sexspielzeug und handgeschriebene Vergewaltigungsdrohungen an ihre Privatadresse, ständig klingelte ihr Telefon.

Wer hat hier wen gedoxt?

Im Zuge der #MeToo-Kampagnen ab 2017 tauchten Listen von Männern auf, die sich echter oder angeblicher Vergehen im Umgang mit Frauen schuldig gemacht hatten. Manche der Vorwürfe blieben vage, und es war unklar, wer sie erhob, denn die Listen waren anonym kompiliert worden – ein bedenklicher Vorstoss in den Bereich der Selbstjustiz, aus dem der Netzaktivismus nie wieder herausgekommen ist.

Doxing indes kann inzwischen beinahe alles sein, während immer weitere Kreise sich an dem beteiligen, was einst in den Bereich des Netzaktivismus fiel. Als die «Washington Post» 2022 über die rechte Influencerin Libs of Tiktok berichtete, die sich anonym über Linke auf Tiktok lustig gemacht und ihnen teils Pädophilie unterstellt hatte, wüteten deren Fans über die angebliche «Doxing-Kampagne» der «Post»-Reporterin. Aber hatte Libs of Tiktok nicht selbst ihre Opfer «gedoxt»?

Inzwischen ist der Internetdiskurs derart militarisiert, dass wohl kaum jemand von den heutigen Tiktok-Nutzern auf die Idee käme, Fotos von sich zu posten, aus denen hervorgeht, wo sie wohnen. Das kann lebensgefährlich werden.

Das «Say their names»-Prinzip als Waffe

Jede Information könnte eine zu viel sein. Jüngere Menschen posten deshalb nicht nur extrem zurückhaltend, sondern wollen auch in Presseinterviews häufig ihren Namen nicht mehr «in der Zeitung lesen».

In Harvard hatte eine konservative Gruppe einen Truck mit einer digitalen Plakatwand vor der Uni auffahren lassen, auf der die Namen und Fotos von Unterzeichnern eines antiisraelischen Statements zu sehen waren. Kritiker kompilierten Listen von Teilnehmern der Demonstrationen, in der Gewissheit, dass das Netz nicht vergisst. Es ist das «Say their names»-Prinzip, die Aufforderung, die Namen der Opfer von Anschlägen zu wiederholen, um ihrer zu gedenken, aber als Waffe. Deshalb demonstrieren manche Studenten maskiert. Deshalb sieht man in den studentischen Protestcamps so viele Vermummte. Deshalb fürchten sich jüdische Studenten vor Kommilitonen im Hamas-Look. Deshalb ist oft gar nicht klar, ob es wirklich Studenten sind, die da protestieren.

Man muss ziemlich blind sein für derlei mediale Dynamiken, wenn man sich nun darüber freut, dass die Sylt-Gröler in kürzester Zeit namentlich bekannt waren und Probleme mit ihren Arbeitgebern bekommen hatten.

Die Podcasterin Nora Zabel («Womansplaining»), die das Sylt-Video geteilt und somit bekannt gemacht hat, meldete sich danach zu Wort, dass sie «dazu beitragen wollte, dass so etwas in Deutschland nicht salonfähig wird». Sie habe aufzeigen wollen, «dass Rassismus sich strukturell in unsere Gesellschaft eingefressen hat». Die paar Leute auf Sylt stünden dafür nur symbolisch. «Was daraus im Netz gemacht wurde, hat mich rückblickend aber erschrocken und abgestossen.»