(Offline-)Brief an die MutterIch will das Internet nicht in meiner Tasche mittragen
Ronja Fankhauser (23) hat kein Smartphone – und erinnert sich an das Aufwachsen mit dem Web.
Hey Mama, tut mir leid, melde ich mich erst jetzt wieder. Ich habe kein Smartphone, nur ein klobiges Tastenhandy, das ich ständig aufzuladen vergesse. Die letzten Wochen war dann auch noch mein Laptop kaputt und ich komplett abgeschnitten von Internet und Social Media.
Dass ich so schwer erreichbar bin, nervt dich, aber ich bringe es nicht über mich, ein Smartphone zu kaufen. Ich will das Internet nicht in meiner Tasche mittragen – es ist zu schwer.
Du hattest recht mit dem Versuch, mich in meiner Kindheit nur eingeschränkt vor den Bildschirm zu lassen, bevor du dann irgendwann die Kontrolle verloren hast, weil ich schnell viel mehr über Computer wusste als du. Als ich mit zwölf meinen eigenen Laptop bekam, wurde das Gerät ein Teil meines Körpers.
Meine Schule auf dem Land hinkte dem Fortschritt hinterher, wir lernten das Zehnfingersystem noch mit Schreibmaschinen und hatten keinen IT-Unterricht. Stattdessen wurden kleine, bunte Broschüren verteilt, die uns ermahnten, online niemals unseren echten Namen anzugeben, Alter oder Wohnort, nichts hoch- und nichts runterzuladen. Horrorgeschichten von alten Männern, die in Chatrooms kleine Mädchen verführen, von Viren, die Kreditkarteninformationen und Nacktfotos stehlen.
Die meisten Erwachsenen, so schien es uns Kindern, hatten Angst vor dem Web – und das machte es für uns attraktiv. Das Internet war noch jung damals. Ein Experimentierraum aus Chatrooms und Flashgames und Videoblogs. Das Internet war meine Kindheitsfreundin, wir sind zusammen aufgewachsen, beide mit jedem Jahr grösser geworden.
Jetzt ist es erwachsen und hat sich in alle Nischen unseres Alltags geschlichen, programmiert unsere Denkstrukturen um, lenkt unsere Wirtschaft, unsere Beziehungen, verfolgt jeden unserer Schritte. Targeted Advertising, Tracking, Algorithmen. Unvorstellbar, dass es einmal als gefährlich galt, mit der echten Identität online unterwegs zu sein – heute werden nicht nur Name, Alter und Wohnort, sondern auch intime Gefühle und Erlebnisse gepostet und gespeichert. Auch du bist jetzt auf Social Media unterwegs und lädst Bilder von deinem Garten hoch. Du kennst dich nicht schlecht aus, benutzt Firefox, weichst Google aus und löschst regelmässig deinen Verlauf, und trotzdem gibt es online vieles, von dem du keine Ahnung hast. Deepfakes, Doxing, Darknet. Organisierter Hass, politische Manipulation.
Das Internet ist ein zeitloser Ort, an dem nichts vergessen geht und die Regeln der Gesellschaft sich auflösen, im positiven wie im negativen Sinn. Es ist ein Wunder und eine Katastrophe, Segen und Fluch. Unfassbar, unkontrollierbar, unberechenbar. Ich glaube an das Potenzial einer Plattform, auf der sich alle Menschen der Welt verbinden können. Aber ein bisschen Distanz würde uns guttun, denke ich – ein bisschen Unerreichbarkeit, ein bisschen offline.
Pass auf dich auf,
Ra
Ronja Fankhauser wuchs auf einem Bauernhof auf. Hier schreibt sie ihrer Mutter aus dem Stadt-Land-Graben.
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