Angriff auf ukrainisches KKWSoll man jetzt Jodtabletten kaufen?
Aus Angst vor einem Atomkrieg wollen sich Menschen mit Jodtabletten eindecken. Warum das unnötig ist und weshalb man die Tabletten nicht vorsorglich einnehmen soll – wir beantworten die wichtigsten Fragen.
Mit dem Angriff auf das ukrainische Kernkraftwerk (KKW) Saporischschja hat die Angst vor einer Atomkatastrophe oder gar einem Atomkrieg massiv zugenommen. Das hat zur Folge, dass sich viele Menschen bei den Behörden und in Apotheken erkundigen, wo und wie man zu Jodtabletten kommen kann. Die Nachfrage nach den Tabletten sei in den Apotheken klar gestiegen, berichtete unter anderem Radio SRF.
Warum kommen nach einem Atomunfall oder bei einer radioaktiven Wolke Jodtabletten zum Einsatz?
Bei der Kernspaltung in Atomreaktoren entsteht das radioaktive Isotop Jod-131. Dieses kann bei einem Reaktorunfall – etwa durch einen Bombenangriff – in die Umwelt gelangen. Auch bei der Detonation einer Atombombe wird Jod-131 freigesetzt.
Die Jodtabletten sollen in einem solchen Fall verhindern, dass sich radioaktives Jod-131 aus der Atemluft in den Schilddrüsen anreichert und Schilddrüsenkrebs verursacht. Die Tabletten enthalten hoch dosiertes Kaliumiodid. Nach Einnahme konzentriert sich das Kaliumiodid in den Schilddrüsen und blockiert so für das radioaktive Jod-131 den Zugang zu den Schilddrüsen.
Die Tabletten sind laut einer aktuellen Mitteilung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) nur dann wirksam, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt eingenommen werden. Werden die Tabletten zu früh geschluckt, ist die Blockade der Schilddrüse beim Durchzug der radioaktiven Wolke möglicherweise nicht mehr wirksam. Wichtig: Die Nationale Alarmzentrale (NAZ) ordnet die Einnahme der Jodtabletten an.
Wie kommt man zu den Jodtabletten?
Alle Einwohner, die im Umkreis von 50 Kilometern von einem KKW leben, erhalten alle zehn Jahre vom Bund eine Schachtel Jodtabletten. Letztmals wurden die Tabletten 2014 verteilt, an 4,9 Millionen Menschen in 1,9 Millionen Haushalten.
Die Jodtabletten kommen zum Einsatz, wenn bei einem schweren Reaktorunfall radioaktives Jod-131 freigesetzt wird. Die Kantone seien verpflichtet die Jodtabletten innerhalb von 12 Stunden an die Bevölkerung zu verteilen. Da dies im 50-Kilometer-Radius zeitlich nicht möglich ist, werden die Jodtabletten vorsorglich an die Haushalte abgegeben.
Und was ist mit all jenen Einwohnerinnen und Einwohnern, die weiter als 50 Kilometer von einem KKW leben?
Diese Menschen erhalten selber keine Jodtabletten nach Hause geliefert. Dafür unterhalten die Kantone Zentrallager mit Jodtabletten, die in einem Ernstfall schnell an diese Teile der Bevölkerung verteilt werden könnten. Derzeit werden rund vier Millionen Packungen gelagert.
Soll man jetzt Jodtabletten kaufen?
Mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung hat bereits Jodtabletten zu Hause, für den Rest der Bevölkerung unterhalten die Kantone Lager; sie werden die Tabletten im Ernstfall rechtzeitig an die Haushalte verteilen. Es gibt also (fast) keinen Grund, selber Jodtabletten zu kaufen und zu horten. Wer neu in eine Gemeinde in der 50-Kilometer-Zone zugezogen ist, kann sich laut Yves Zenger, Mediensprecher bei PharmaSuisse, an die Gemeinde wenden und erhält dort einen Gutschein. Und wer eigentlich Jodtabletten zu Hause haben sollte, diese aber nicht mehr findet, kann eine neue Schachtel in einer Apotheke für fünf Franken kaufen.
Sollte man Jodtabletten vorbeugend einnehmen?
Nein. Generell sollten hoch dosierte Kaliumiodid-Tabletten nur nach Aufforderung durch die Behörden eingenommen werden. Denn sie wirken nur eine relativ kurze Zeit. Zudem kann die Einnahme der Jodtabletten in seltenen Fällen Nebenwirkungen mit sich bringen. In Einzelfällen kann eine jodbedingte Überfunktion der Schilddrüse auftreten mit erhöhtem Puls, Schweissausbrüchen, Schlaflosigkeit, Zittern. Auch zu allergischen Reaktionen kann es in seltenen Fällen kommen. Diese Risiken lohnt sich nur einzugehen, wenn die Aufnahme von radioaktivem Jod-131 unmittelbar bevorsteht. Das ist aktuell nicht der Fall.
Wer informiert, wenn es zu einer atomaren Katastrophe kommen würde?
Dafür ist die Nationale Alarmzentrale (NAZ) zuständig. Generell beobachtet das BAG laufend die Radioaktivität in der Umwelt und ist dabei an internationale Netzwerke angeschlossen, die Informationen austauschen. Dazu gehören die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) sowie Experten aus europäischen Laboratorien, dem sogenannten Ring of Five. «Bisher wurden weder in der Schweiz noch in anderen europäischen Ländern erhöhte Radioaktivitätswerte festgestellt», schreibt die Behörde in der aktuellen Mitteilung.
Im Falle einer Atomexplosion im Ausland würde eine Einnahme von Jodtabletten nur auf Grundlage der Messergebnisse der Radioaktivität in der Luft angeordnet werden, schreibt das BAG. Ob und wann die Schweizer Bevölkerung nach einem Atomunfall Jodtabletten einnehmen soll, hängt stark von den Windverhältnissen ab.
Warum reichert sich Jod in den Schilddrüsen an?
Die Schilddrüse produziert verschiedene Hormone, die für den Energiestoffwechsel und das Wachstum von Zellen und des Körpers zwingend gebraucht werden. All diese Hormone benötigen Jod. Fehlt dieses Element, kann die Schilddrüse keine Hormone produzieren. Bei Jodmangel, wie er in der Schweiz bis Anfang des 20. Jahrhunderts häufig vorkam, vergrössert sich die Schilddrüse, es kann sich ein Kropf bilden. Bei Neugeborenen kann Jodmangel zu Kretinismus führen (Symptome: Skelettmissbildungen, Zwergwuchs, Sprachstörungen, Taubheit). Vor knapp 100 Jahren begann man in der Schweiz, dem Speisesalz Jod beizufügen. Seitdem sind Jodmangelerscheinungen wie Kropf oder eben Kretinismus praktisch verschwunden.
Warum haben wir nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl keine Jodtabletten eingenommen?
Damals, im Jahr 1986, hat unter anderem das kurzlebige Jod-131 zur Erhöhung der Strahlendosis in der Schweiz beigetragen. Da beim Durchzug der radioaktiven Wolke im Tessin heftiger Regen fiel, wurde in dieser Region am meisten Radioaktivität auf Boden und Pflanzen abgelagert, wie das Eidgenössische Nuklearinspektorat (Ensi) in einem Bericht schreibt. Die Belastung mit Jod-131 war aber zu gering, um wegen der potenziellen Nebenwirkungen die Einnahme hoch dosierter Jodtabletten zu empfehlen.
Nur in Polen, das besonders von der durchziehenden radioaktiven Wolke betroffen war, wurden Jodtabletten verabreicht, insbesondere an Kinder und Jugendliche. Bei den behandelten Personen wurde kein Anstieg der Häufigkeit von Schilddrüsenkrebs beobachtet. In Weissrussland, wo keine Jodtabletten verteilt wurden, stieg die Häufigkeit von Schilddrüsenkrebs bei Kindern nach der Tschernobyl-Katastrophe hingegen deutlich an.
Könnte jetzt bei der unsicheren Lage wieder eine Gefahr vom Unglücksreaktor in Tschernobyl ausgehen?
In Bezug auf Jod-131 lautet die Antwort nein. Denn Jod-131 hat eine Halbwertszeit von acht Tagen. Das bedeutet, dass nach acht Tagen durch den radioaktiven Zerfall nur noch die Hälfte der ursprünglichen Menge vorhanden ist. Jetzt, nach fast 36 Jahren, ist das entwichene Jod-131 weitestgehend zerfallen. Sollte eine Wolke aufgewirbeltes Material aus der Reaktorruine oder deren Umgebung die Schweiz erreichen, wäre so gut wie kein Jod-131 dabei.
Was jetzt noch substanziell in Tschernobyl herumliegt, sind längerlebige Radionuklide wie Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren oder Strontium-90 mit einer Halbwertszeit von rund 29 Jahren. Beim Reaktorunfall 1986 wurden diese Radionuklide durch die Explosionen und den Brand in höhere Luftschichten befördert und teils über weite Strecken transportiert. Wenn hingegen jetzt durch militärische Aktionen etwas aufgewirbelt wird, bleibt das in der näheren Umgebung.
Schützen die Jodtabletten auch vor den langlebigen radioaktiven Elementen?
Nein, sie schützen ausschliesslich vor der Anreicherung von radioaktivem Jod-131 in der Schilddrüse. Zum Schutz vor allen anderen Radionukliden wie Cäsium-137 und Strontium-90 hilft die Einnahme von Jodtabletten nicht.
Nach dem Tschernobyl-Unglück 1986 hatten die Behörden in der Schweiz trotz der vergleichsweise geringen Belastung Schutzmassnahmen getroffen, um die Aufnahme von Cäsium-Nukliden und Jod-131 durch kontaminierte Lebensmittel zu reduzieren. So wurde zum Beispiel schwangeren Frauen, stillenden Müttern und Kleinkindern für rund vier Wochen empfohlen, auf Frischmilch und Frischgemüse zu verzichten.
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