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Krieg gegen die Ukraine
Gefechte zwischen Atommüll

Unter russischer Kontrolle: Das Sperrgebiet rund um den Unglücksreaktor von Tschernobyl.
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Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl liegt zwar mehr als 35 Jahre zurück, doch noch immer ist das Gebiet um den am 26. April 1986 explodierten vierten Reaktorblock des Atomkraftwerks «Wladimir Lenin» stellenweise hoch kontaminiert. Bereits am ersten Kriegstag am Donnerstag haben russische Soldaten das Gebiet erobert, das gut 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew liegt und in Sichtweite zum Nachbarland Weissrussland. Es soll zu Kämpfen in unmittelbarer Nähe zur Reaktorruine gekommen sein.

Um die aktuelle Strahlenbelastung des 30 Kilometer weiten Sperrgebiets um den Reaktorblock zu vermessen, war im September eine Gruppe von Fachleuten des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) in die Ukraine gereist. Ursprünglich war geplant, die Messdaten im April auf einer Fachkonferenz zu präsentieren.

Angesichts der Situation in der Ukraine sagte BfS-Präsidentin Inge Paulini nun, sie sei erschüttert. «Mit unseren ukrainischen Kolleginnen und Kollegen verbindet uns eine langjährige und enge Zusammenarbeit. Unsere Gedanken sind bei ihnen und ihren Familien.» Weiter heisst es von der Behörde, Experten des BfS würden «Berichte über erhöhte Radioaktivitätswerte in der Umgebung des stillgelegten Kernkraftwerks» intensiv verfolgen. Der mögliche Ursprung der erhöhten Werte sei noch unklar.

In Teilen der Sperrzone besteht Lebensgefahr

Noch immer ist das Gebiet um den explodierten Reaktor verstrahlt. Die Cäsiumverteilung im Boden ähnelt der, die in den 1990er-Jahren von der Ukraine gemessen worden war. Das strahlende Element hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren. Die im letzten September gemessenen Strahlenwerte hatten sich im Vergleich zu früheren Messungen denn auch halbiert. Innerhalb der Sperrzone gibt es allerdings Bereiche, die noch immer so hoch belastet sind, dass dort Lebensgefahr für Menschen besteht.

Die höchsten Strahlendosen wurden in der Umgebung des havarierten Reaktors gemessen. Die hoch kontaminierten Gebiete waren nach dem GAU umgepflügt worden, um die Strahlung von der Oberfläche wegzubekommen. Noch heute liegen dort tödliche Mengen radioaktiven Materials nur eine Pflugschar tief im Untergrund.

Die ukrainische Regierung hat ein Netz von Messsensoren im Sperrgebiet installieren lassen, das anschlagen soll, sobald irgendwo die Strahlung stark ansteigt. Zum Beispiel durch einen Waldbrand können radioaktive Stoffe in die Atmosphäre freigesetzt werden und sich ausbreiten. Eine Forschungsstation in der Sperrzone misst regelmässig die Radioaktivität in Luft, Oberflächengewässern und Grundwasser.

Kampfübungen vor dem Kriegsausbruch: Ukrainische Soldaten in Prypjat in der Nähe von Tschernobyl.

Einerseits dienen diese Daten direkt dem Bevölkerungsschutz, andererseits dem Schutz der Feuerwehr im Sperrgebiet, die ausrückt, wenn es irgendwo brennt. Zu Waldbränden kommt es häufiger in der Umgebung von Tschernobyl. Zumindest für Zentraleuropa schätzt das BfS die Auswirkungen von grossflächigen Bränden selbst unter ungünstigen Wetterverhältnissen als «äusserst gering» ein. Jeweils zwei Wochen bleiben die Feuerwehrleute im Sperrgebiet, dann haben sie Pause, damit ihre Strahlendosis nicht zu gross wird.

So war es noch im September, als sich der Konflikt mit Russland noch weit im Osten des Landes als Stellungskrieg zwischen ukrainischen Regierungssoldaten und prorussischen Rebellen abspielte, weiter im Westen davon aber nicht viel zu spüren war.  (Lesen Sie zum Thema den Artikel «Republiken der Angst und der Armut».)


Seit Ende 2016 schirmt eine Schutzhülle aus Stahl und Beton den explodierten Reaktorblock ab, der in den späten 1980er-Jahren in einen Sarkophag aus Beton gegossen worden war. Doch der erste Sarkophag hielt den Strahlen nicht lange stand, weswegen die zweite Hülle mit EU-Hilfe errichtet wurde. Aber in der Sperrzone liegen nicht nur Altlasten der Reaktorkatastrophe. Die alten Brennelemente aus den intakten Reaktoren wurden in einem Zwischenlager untergebracht, flüssiger radioaktiver Abfall lagert in Tanks.

Was nun aus der Sperrzone von Tschernobyl wird, ist vollkommen offen.

Zuletzt stammte rund die Hälfte der ukrainischen Stromerzeugung aus Atomkraftwerken und der Müll wurde ebenfalls ins Sperrgebiet gebracht. Nur ein paar Kilometer entfernt vom Katastrophenreaktor wurde erst im vergangenen Sommer ein neues Zwischenlager für atomaren Müll eingeweiht.

Ausserdem liegt die Anlage «Vektor» ebenfalls im Sperrgebiet, wo schwach- und mittelradioaktive Stoffe für die kommenden Jahrhunderte eingelagert werden sollen. Der Betrieb war auf 300 Jahre ausgelegt worden, dann soll die Radioaktivität des eingelagerten Mülls abgeklungen sein und das Areal wieder eine «grüne Wiese» sein.

Atomenergiebehörde ist «schwer besorgt»

Was nun aus der Sperrzone von Tschernobyl wird, ist vollkommen offen. Dass russische Soldaten das Gebiet um Tschernobyl kontrollieren, bezeichnete eine Sprecherin der US-Regierung am Donnerstag als «Geiselnahme, die routinemässige Arbeiten zum Erhalt und zur Sicherheit der Atommülleinrichtungen aussetzen könnte».

Alarmiert reagierte auch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA in Wien. Die Sicherheit im Unfallreaktor müsse unbedingt gewährleistet bleiben, forderte IAEA-Chef Rafael Grossi. Seine Behörde verfolgt «schwer besorgt» die Situation in der Ukraine und ruft zu maximaler Zurückhaltung auf, um die Atomanlagen des Landes vor Gefahren zu bewahren. Grossi wies darauf hin, dass bewaffnete Angriffe und Bedrohungen gegen solche Anlagen die UNO-Charta, das Völkerrecht und IAEA-Grundregeln verletzen.