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Angst vor dem Sommer 2023
So viele Wölfe wie noch nie geschossen

Gegen 200 Wölfe leben in der Schweiz inzwischen.

Für Markus Ritter ist klar: So kann es mit dem Wolf nicht weitergehen. «Die Bauernfamilien machen sich allergrösste Sorgen, mit welcher Eskalation im nächsten Sommer zu rechnen ist», sagt der Präsident des Schweizer Bauernverbands und Mitte-Nationalrat. Bereits heute sei die Situation unhaltbar und psychisch sehr belastend.  

In diesem Jahr sind bis Anfang November 879 gerissene Nutztiere dokumentiert. Das zeigen Zahlen der Stiftung Kora, der Koordinationsstelle für Raubtierökologie und Wildtiermanagement. Gerechnet wird bis Ende Jahr mit mehr als 1000 Rissen landesweit. Das wäre ein neuer Höchststand und rund vier Mal mehr als im Durchschnitt der Jahre 1998 bis 2022. Parallel wächst die Zahl der Wölfe. 2012 hielt sich ein Rudel hierzulande auf, mittlerweile sind es 20 und insgesamt 180 bis 200 Tiere.  

Von diesen Zahlen wird die Rede sein, wenn der Nationalrat am Donnerstag über den Wolf diskutiert. Sie bestärken betroffene Bauern in ihrer Einschätzung, dass Bund und Kantone die Kontrolle über die Situation zu verlieren drohen. Zur Debatte steht ein Vorschlag des Ständerats, der den Wolfsschutz lockern will. Künftig sollen die Tiere nicht nur geschossen werden dürfen, wenn sie Schäden angerichtet haben, sondern neu auch, um künftige Schäden zu verhindern. Pikant: Solche präventiven Abschüsse waren Teil des revidierten Jagdgesetzes, welches das Stimmvolk knapp abgelehnt hat.  

Es war damals, im Herbst 2020, ein überraschender Triumph für die Umweltverbände, welche das Referendum ergriffen hatten. Nur: Wie es weitergehen sollte, wusste nach dem Abstimmungssonntag niemand. Und so setzten sich die Umweltverbände mit den Verlierern zusammen, unter anderem dem Bauernverband: Sie schmiedeten einen Kompromiss. Dieser erlaubte ebenfalls präventive Abschüsse, aber nur bei «wahrscheinlichen zukünftigen wesentlichen Schäden». Und dies auch nur unter der Bedingung, dass die regionalen Wolfsbestände in ihrer Existenz nicht bedroht werden und Herdenschutz­massnahmen erfolgt sind.  

Riss mit politischen Folgen

Doch die Einigkeit zerbrach, nachdem ein Wolfsrudel diesen Juli auf der Bündner Alp Nurdagn eine trächtige, knapp eine Tonne schwere Simmentaler-Kuh angefallen und tödlich verletzt hatte. Der Bauernverband warnte, die Wölfe würden die Alpwirtschaft gefährden, und forderte eine schärfere Gangart – mit Erfolg. Zwar dürfen beim Vorschlag des Ständerats die Regulierungen den Bestand der Population nicht gefährden, sie können aber erfolgen, um einen – nicht näher definierten – Schaden oder eine – ebenfalls nicht genauer beschriebene – Gefährdung von Menschen zu verhindern, sofern «zumutbare Schutzmassnahmen» nicht ausreichen. Abschüsse sollen auch möglich sein, um «regional angemessene» Wildbestände zu erhalten.  

Die Hürden liegen also deutlich tiefer als beim erwähnten Kompromiss. Allein schon aufgrund der Existenz eines Wolfsrudels könnte ein Schadenpotenzial moniert werden, sagt Urs Leugger-Eggimann, Geschäftsleiter von Pro Natura. «Somit würden Wölfe grundsätzlich zur präventiven Regulierung freigegeben.» Diese würde faktisch auf Quote erfolgen, ohne Schadensbezug, wie heute beim Steinbock. «Viel effektiver und hilfreicher für die Alp- und Landwirtschaft wäre eine Regulierung, die zeitlich und räumlich möglichst nahe bei einem erfolgten oder zukünftigen Schaden erfolgt.» 

Die geplante Schutzaufweichung ist nicht zuletzt deshalb umstritten, weil der Wolf gemäss der Berner Konvention des Europarats «streng geschützt» bleibt. Dessen ständige Kommission hat den Antrag der Schweiz, den Wolf in die Liste der geschützten Tierarten zurückzustufen, Ende November abgelehnt. Die Wolfspopulation in den Alpen ist noch immer potenziell gefährdet; das zeigt ein neues Gutachten im Auftrag des Europarats.  

Hinzu kommt: Der Wolf kann bereits heute in seinem Bestand reguliert werden. Voraussetzung ist ein «erheblicher» Schaden. Seit letztem Jahr reichen 10 gerissene Nutztiere oder 2 Stück Grossvieh innerhalb von vier Monaten, um einen Wolf abzuschiessen oder ein Rudel zu regulieren. Vorher waren es in derselben Zeitspanne 15 Nutztiere für ein Rudel und 25 für einen Einzelwolf.  

«Es braucht beim Wolf keine Jagd, wie sie beim Steinbock praktiziert wird.» 

Urs Leugger-Eggimann, Pro Natura

Dass die aktuelle Regelung Eingriffe in den Wolfsbestand ermöglicht, zeigen Zahlen aus den Kantonen, welche die Umweltverbände erhoben haben: In diesem Jahr wurden 19 Wölfe nach erteilten Abschussbewilligungen erlegt – so viele wie noch nie. Vier Rudel wurden reguliert, also etwa jede vierte hierzulande lebende Wolfsfamilie. Beim Beverinrudel und dem Wannaspitz-Rudel etwa wurden je 3 Tiere erlegt. Insgesamt gab es 27 Abschussfreigaben, die meisten im Kanton Graubünden (11), dahinter folgen die Waadt und das Wallis (je 4).

Entscheidet erneut das Volk?

Die Umweltverbände hätten heuer keine der Abschussverfügungen rechtlich angefochten, sie trügen die geltende Regelung mit, sagt Leugger-Eggimann von Pro Natura und resümiert: «Es braucht beim Wolf keine Jagd, wie sie beim Steinbock praktiziert wird.» Diese werde auch der wichtigen Rolle des Wolfs im Ökosystem, etwa für einen gesunden Bergwald, überhaupt nicht gerecht.

Womöglich wird am Ende das Stimmvolk das letzte Wort haben. Es ist durchaus möglich, dass die Umweltverbände das Referendum erneut ergreifen werden. Zuerst aber wollen sie den Ausgang der parlamentarischen Debatte abwarten. Bürgerliche Politiker zeigen sich derweil überzeugt, dass das Stimmvolk nicht ein zweites Mal Nein sagen wird, der Problemdruck habe zugenommen, das spüre auch die Bevölkerung im Mittelland.  

Dieses Gesetz sei enorm wichtig, sagt Nationalrat Mike Egger (SVP). «Die Landwirtschaft darf nicht länger die Auswirkungen einer romantisierten Politik im Zusammenhang mit dem Wolf tragen.»