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AboDaten aus den Kantonen
So häufig sind Corona-Ausbrüche in Schulen wirklich

Die Maskenpflicht wird im neuen Schuljahr in den meisten Kantonen aufgehoben.

Rui Biagini aus Zollikon hat drei Buben. Drei, sieben und neun Jahre alt. Der Vater ist besorgt: «Wollen wir wirklich einfach zuschauen, wie unsere Kinder durchseucht werden?» Die Corona-Krise war für ihn ein politisches Erweckungserlebnis: Zusammen mit Dutzenden anderen Eltern sammelt er derzeit Unterschriften für die Petition «Protect the Kids». Sie fordert eine generelle Maskenpflicht an Schulen, präventives Testen mindestens zweimal pro Woche sowie CO₂-Messgeräte und Luftfilter in jedem Klassenzimmer.

Eine andere Petition, die online fleissig geteilt wird, trägt fast denselben Namen: «Schützt die Kinder». Doch die Ziele der beiden Projekte könnten unterschiedlicher nicht sein. Dieser Vorstoss nämlich fordert ein «Impfmoratorium für alle Kinder unter 16 Jahren». Unterstützt wird er unter anderem von der Gruppe «Eltern für Freiheit», die auch gegen Massentests und Maskenobligatorien an Schulen kämpft. Auch sie argumentiert mit dem Kindswohl.

Schulstart voller Anspannung

Wohl noch nie startete ein Schuljahr in der Schweiz unter so angespannten Bedingungen. Anders als im ersten Pandemiejahr sind es jetzt die Kleinsten, die im Fokus stehen. Für unter 12-Jährige gibt es noch keine Impfung gegen Covid-19. Die dominante Deltavariante ist deutlich aggressiver als das ursprüngliche Virus, und der Bundesrat nimmt in der Normalisierungsphase explizit höhere Fallzahlen in Kauf. Das Klassenzimmer wird damit zur ideologischen Kampfzone.

Der renommierte Bildungsökonom Stefan Wolter sitzt seit Ende des letzten Jahres in der wissenschaftlichen Corona-Taskforce des Bundes und sagt: «Es gibt im Moment von verschiedenen Seiten sehr laute Stimmen, die versuchen, die Politik vor sich herzutreiben. Manche Eltern wollen ihre Kinder am liebsten aus der Schule nehmen, weil ihnen die Schutzmassnahmen zu lasch sind – andere drohen mit dem gleichen Schritt, weil sie sich an den regelmässigen Tests stören.» Ob es sich dabei um laute Minderheiten handelt, oder ob sie grössere Teile der Bevölkerung repräsentieren, sei dabei schwierig zu eruieren.

Fakt ist: In den Kantonen, in denen das neue Schuljahr schon vor einer oder zwei Wochen begonnen hat, schiessen die Infektionszahlen teilweise bereits wieder in die Höhe. 138 positive Fälle im Schulkontext meldete Baselland am Freitag. Es gehört zu den wenigen Kantonen, die die Ansteckungen in den Schulen proaktiv ausweisen. Im bündnerischen Malans musste eine Schule wegen ungewöhnlich vieler Corona-Fälle komplett schliessen. Und auch der Aargauer Lehrerinnenverband schlägt auf Twitter Alarm: Schon wieder seien Klassen in Quarantäne – und das Contact-Tracing offenbar überlastet.

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Oft haben solche Meldungen anekdotischen Charakter. Denn wie häufig es gesamthaft zu Corona-Ausbrüchen und Quarantäneanordnungen in Klassen kommt, war bis anhin nicht bekannt. Das Bundesamt für Gesundheit kommuniziert auf Anfrage keine Daten, auch viele Kantone winken ab. Auf der Website Schulcluster.ch sammeln private Aktivistinnen Meldungen zu Corona-Fällen an Schulen, aber ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Sie markieren die Ausbruchsorte mittels Warnzeichen auf einer Schweizerkarte. Es sind viele gelbe Dreiecke.

Nun kommt erstmals etwas Licht ins Dunkel: Diese Redaktion erhielt Einsicht in ein Monitoring, das die Erziehungsdirektorenkonferenz seit März wöchentlich erstellte. Dieses zeigt: Bis zu den Sommerferien bewegte sich der Anteil der Klassen, die in Quarantäne waren, jeweils im Promillebereich. Bei den Primarschulen lag der Höchstwert im April bei 0,54 Prozent der Klassen, auf der Sekundarstufe im März bei 0,23 Prozent.

«Anders ausgedrückt: In über 99 Prozent der Klassen findet der Unterricht jeweils ganz normal statt», so Bildungsforscher Wolter. Er begrüsst, dass diese Zahlen nun einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden. «Denn wenn man zeitweise die Nachrichten verfolgte, konnte man den Eindruck gewinnen, in den Schulen herrsche ein regelrechter Flächenbrand. Das ist nicht der Fall.»

Wieder ein Flickenteppich

Dennoch befürwortet Wolter strenge Schutzmassnahmen, solange die Fallzahlen hoch sind. Denn das oberste Ziel müsse sein, dass die Schulen nicht wieder geschlossen werden. Die Lernrückstände, die sich im Homeschooling bei gewissen Kindern einstellten, seien kaum mehr aufzuholen – egal, wie viel Zeit und finanzielle Ressourcen in Nachhilfe gesteckt würden. «Der Lockdown im letzten Jahr hat die Unterschiede zwischen guten und schlechten Schülern wie ein Brennglas potenziert.»

Regelmässiges Testen an den Schulen sei deshalb essenziell und auch eine Maskenpflicht weiterhin zu empfehlen. CO₂-Messgeräte, wie sie auch die Taskforce und der Lehrerverband fordern, seien ohnehin sinnvoll, so Wolter, «um Infektionen zu verhindern, aber auch, weil in den Schulzimmern selbst in normalen Zeiten häufig dicke Luft herrscht».

In Realität zeigt sich heute einmal mehr ein Flickenteppich verschiedener Regelungen. Während beispielsweise die Schulen in Baselland flächendeckend präventive repetitive Tests durchführen, verzichten der Thurgau und St. Gallen darauf. In Bern wird nur während der ersten drei Schulwochen getestet, Zürich überlässt den Entscheid den einzelnen Schulen.

Die Maskenpflicht haben die meisten Kantone in der Volksschule abgeschafft, wobei die Regeln auch hier uneinheitlich sind. Schaffhausen führte die Maskenpflicht in der Sekundarschule am Montag kurzfristig wieder ein, nachdem in der ersten Schulwoche sehr viele Tests positiv ausgefallen waren.

CO₂-Messgeräte oder Luftfilter kommen erst in wenigen Gegenden flächendeckend zum Einsatz. In Luzern startet am Montag ein Pilotversuch mit Luftmessungen in 18 Schulhäusern mit 216 Klassenzimmern. Die Kosten belaufen sich für das Pilotjahr auf 50’000 Franken, wie Kommunikationschefin Regula Huber sagt. In Baselland stehen allen kantonalen Schulen Messgeräte zur Verfügung. In Graubünden, Solothurn und der Waadt befinden sich ähnliche Projekte im Aufbau.

Eine Unterstützerin der Petition «Protect The Kids» ist Alt-Nationalrätin Chantal Galladé. Sie ist heute Schulpräsidentin im Winterthurer Schulkreis Töss – und hat gemeinsam mit der Chefin eines anderen Schulkreises CO₂-Messgeräte bestellt. Dazu kommen präventive Tests für alle Kinder ab dem zweiten Kindergarten. Galladé sagt: «Niemand hat diese Kinder gefragt, ob sie durchseucht werden wollen. Also sind wir es ihnen schuldig, sie so gut als möglich zu schützen.»

«Ein frühzeitiger und dezidierter Aufruf zum Impfen an die Lehrerschaft wäre mutiger gewesen als die blosse Forderung nach CO₂-Messgeräten.»

Stefan Wolter, Bildungsökonom

Gross sind die Unterschiede auch in der Art und Weise, wie die Kantonsärzte mit Corona-Ausbrüchen in Klassen umgehen. Stefan Wolter sagt: «Wir kennen vergleichbare Fälle, bei denen eine Klasse komplett in die Quarantäne gesteckt wurde – und in einer anderen gar nichts passierte.» Die teilweise «erratischen Entscheide» seien dem Vertrauen der Elternschaft in die Sicherheit an den Schulen nicht gerade zuträglich.

«Etwas erstaunt» zeigt sich der Bildungsökonom darüber, dass etwa der Lehrerverband das Schulpersonal nicht entschiedener zum Impfen aufgerufen hat. «Denn wenn sich die Erwachsenen impfen, ist das der beste Schutz für die Kinder.» Zumindest solange, bis auch für die Kleineren eine Impfung freigegeben wird. «Ein frühzeitiger und dezidierter Aufruf zum Impfen an die Lehrerschaft wäre mutiger gewesen als die blosse Forderung nach CO₂-Messgeräten», findet er.

Eine Impfung für kleine Kinder dürfte frühestens im kommenden Jahr verfügbar sein. Für die Jugendlichen über 12 Jahren ändert sich die Situation demnächst: Schon Ende dieser Woche dürfte die Eidgenössische Impfkommission für diese Altersgruppen eine überarbeitete Impfempfehlung präsentieren, wie ihr Präsident Christoph Berger auf Anfrage bestätigt. Galt die Empfehlung bislang vor allem für Kinder aus der Risikogruppe und solche, die mit besonders gefährdeten Personen zusammenleben, wird sie nun voraussichtlich auf alle Jugendlichen ausgeweitet.

Kinder lernen auch von Kindern

Kritisch sieht Bildungsexperte Wolter den Trend, die Kinder aus der Schule zu nehmen und selber zu unterrichten. «Den Eltern ist häufig nicht bewusst, wie viel die Kinder sozial und schulisch von ihren Mitschülerinnen lernen.» Dass manche Mütter und Väter Angst haben, sei aber verständlich. Denn die Gefahr, dass sich Kinder mit Delta anstecken, sei schliesslich real – auch wenn gesundheitliche Langzeitfolgen bei den Kleinsten äusserst selten seien. (Lesen Sie mehr: Mehr Zürcher Eltern nehmen ihre Kinder aus der Schule)

Rui Biagini kann mit dieser Argumentation wenig anfangen. «Das Wort ‹selten› verliert jegliche Bedeutung, wenn das eigene Kind betroffen ist.» Neben Long Covid drohe auch das Pims-Syndrom, eine seltene, aber äusserst schwere Entzündungskrankheit. «Diese Kinder müssen häufig intensivbehandelt werden. Für die betroffenen Familien ist das eine Riesenbelastung.»

Der Vater spielte schon wiederholt mit dem Gedanken, seine Kinder aus der Schule zu nehmen. Den Kita-Platz für den Kleinsten hat er storniert. Selbst der Dreijährige trägt im Bus Maske. Dass er seine Söhne impfen lässt, sobald dies möglich ist, ist für Biagini aufgrund der bisherigen Datenlage klar. «Ich würde keine Sekunde zögern. Die Impfreaktionen sind mild, und die Impfung reduziert das Risiko vor allem für Long Covid offenbar deutlich.»