Abfahrtsweltmeisterin Jasmine FlurySie weint mit ihrer besten Freundin – doch die Gedanken sind daheim
Die Bündnerin feiert einen emotionalen Sieg. Weil sie mit Corinne Suter auf dem Podest steht. Und zu Hause etwas vor sich geht, das sie eigentlich für sich behalten wollte.
Vielleicht hat Jasmine Flury Angst, dass die Situation nicht noch mehr Kitsch verträgt. Da wird die Bündnerin Weltmeisterin, steht mit Corinne Suter ihre beste Freundin mit auf dem Podest – und dann hat auch noch ein Journalist mitgehört, als sie im Pressesaal mit ihren Liebsten telefonierte. «Woher wissen Sie das?», fragt Flury auf eine entsprechende Nachfrage und sagt dann doch, um was es geht: Ihre Schwester liegt an diesem Samstag in den Wehen, Jasmine Flury wird zum dritten Mal Tante.
Es ist etwas gar viel, was auf die Bündnerin einprasselt, es erfasst sie ein ganzes Bündel an Emotionen. So ist wenig erstaunlich, dass die Tränen im Ziel von Méribel fast ununterbrochen fliessen, bei jeder Umarmung einer Konkurrentin oder Teamkollegin noch etwas mehr. Weltmeisterin in der Abfahrt ist die 29-Jährige geworden, «wenn mir das jemand sagt, ist das unglaublich. Ich checke es noch gar nicht», sagt sie auch zwei Stunden danach.
Dieser Sieg in der Königsdisziplin des Skirennsports ist die Krönung eines Wegs, der immer allerlei Hindernisse bereithielt. Auch zuletzt wieder. In der Vorwoche trainierten die Schweizerinnen in Südtirol. Nur Flury nicht. «Keinen einzigen Tag fuhr sie Ski», sagt Abfahrtstrainer Roland Platzer, «sie machte nichts, hatte Grippe, Durchfall, überhaupt keine Kraft.» Erst diese Woche in den französischen Alpen päppelte sie sich Tag für Tag auf, fühlte sich immer wohler auf dieser Strecke, bis am Samstag alles aufging – und sie nach ihrer Fahrt mit tiefer Startnummer auch davon profitierte, dass die Strecke im oberen Teil immer langsamer wurde.
Suter bleibt die Frau der Grossanlässe
An einer Weltmeisterschaft muss halt alles zusammenpassen. Und wie es das tut an diesem Tag für Flury, wird klar, als sie Suter im Zielraum in den Armen liegt und sie sich nicht mehr loslassen wollen. Bronze hinter der Österreicherin Nina Ortlieb hat die Schwyzerin gewonnen. Wieder einmal hat sie geliefert an Titelkämpfen, sie, die an der WM in Are 2019 Silber und Bronze gewann, 2021 in Cortina d’Ampezzo Gold und Silber und 2022 Abfahrtsgold an den Olympischen Spielen von Peking.
Aus Are, wo der Stern von Suter so richtig aufging am Ski-Himmel, gibt es diese Geschichte, die in winzigen Details so wunderbar erzählt, wie die Beziehung zwischen ihr und Flury schon seit langem funktioniert. Am Dienstagabend, als Suter mit Super-G-Bronze zurückkehrte in das rote Schwedenhäuschen am Streckenrand, das sie mit Flury bewohnte, nach einem langen Tag mit Medienmarathon und Fest im House of Switzerland, wartete ihre Mitbewohnerin auf sie. Sie hatte Vitamin-Brausetabletten bereitgelegt und Brötchen und Bananen gekauft. «Sie wusste genau, was ich brauche», sagte Suter damals. Und nun also erleben sie einen gemeinsamen Höhepunkt – weil Suter auch beim vierten Grossanlass in Serie zuschlägt. Dabei hielt auch ihre jüngste Geschichte eine Menge Tücken bereit.
In Cortina d’Ampezzo ist Suter vor drei Wochen gestürzt, litt an den Folgen einer Gehirnerschütterung, verdunkelte das Zimmer, ging an manchen Tagen nicht vor die Tür, schlief an den Nachmittagen, anstatt zu trainieren. Auch in dieser Woche fühlte sie sich kaum je wohl, «noch am Freitag hatte ich riesige Zweifel», sagt sie: Das Training beendete sie als 23. – und wusste nicht, ob sie überhaupt starten sollte zur Abfahrt. Trainer Platzer habe sie unterstützt und ermutigt, «er war der Einzige, der noch an mich glaubte», sagt Suter. Und: «Ich fühlte mich bei einem Erfolg sicherlich noch nie so unvorbereitet wie heute.»
Umso ehrlicher und unverstellter sind ihre Emotionen. Und wenn sie von Jasmine Flury spricht, werden ihre Augen noch etwas feuchter. «Es ist dermassen surreal – und so verdient», sagt Suter. Flury sei nicht nur innerhalb der Skiwelt ihre beste Freundin, «sie ist es in meinem Leben. Wir machen sehr viel gemeinsam, erlebten viele Höhen und Tiefen, das schweisst extrem zusammen. Wir wissen, wie es ist, Tränen zu haben, weil es nicht gut läuft.» Auch an diesem Tag weinen beide ungehemmt – aus einem schönen Anlass. Es ist noch einmal eine Potenzierung der Gefühle, die sie in Garmisch-Partenkirchen 2022 erlebten, als Suter die Abfahrt vor Flury gewann.
Beinahe hätte die Hüfte Flurys Karriere beendet
Dass es die schüchterne Bauerntochter aus dem 200-Seelen-Dorf Monstein nahe Davos überhaupt so weit brachte, an die Weltspitze des Skisports, daran glaubten lange nur noch wenige Menschen. Kurz vor Beginn des Winters 2015/16 leidet sie an Hüftproblemen, bricht die Saison ab, bevor sie begonnen hat. Manche Ärzte raten ihr zu einem künstlichen Hüftgelenk, es wäre das Ende ihrer jungen Karriere gewesen. Flury entscheidet sich für eine konservative Behandlung, passt das Training an, so richtig gut aber wird es nie. Sie akzeptiert es, bei allen Zweifeln, die sie begleiten.
2017 erlebt Flury in St. Moritz einen ersten grossen Höhepunkt, als sie aus dem Nichts und dank günstiger Windbedingungen den Super-G gewinnt. Doch der bis heute letzte Triumph im Weltcup ist für Flury mehr Bürde denn Befreiung, sie kommt mit dem Rummel nicht zurecht, misst sich an diesem Sieg, hat Mühe mit Rückschlägen.
Dann kommt der 11. Februar 2023 in Méribel, ist das alles weit weg, und Flury weiss, wofür sie all die Jahre über gekämpft hat. Sie sagt: «Das kann mir jetzt niemand mehr nehmen.» Sie will diesen WM-Titel festhalten – und sich immer wieder daran erinnern, sollte es wieder einmal in die andere Richtung gehen.
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