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Mängel im neuen Asylsystem
Sie haben die Hölle überlebt – jetzt sollen sie zurück

Viele weibliche Asylsuchende sind Opfer von Menschenhandel, doch das neue Asylsystem schützt sie schlecht: Zwei nigerianische Frauen vor ihrer erzwungenen Abreise nach Westeuropa.
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Sie hat eine qualvolle Zeit hinter sich, als sie in der Schweiz ankommt: Die 26-jährige Caroline (Name geändert) entflieht in ihrer Heimat Togo einer Zwangsehe. Auf der Flucht verkaufen die Schlepper sie an eine reiche Familie in Marokko, wo sie als Haushaltssklavin schuften muss. In Italien, ihrer nächsten Station, wird sie in einem Bordell eingesperrt und zur Prostitution gezwungen.

Bei einer Polizeikontrolle stellt Caroline ein Asylgesuch. Weil sie sich im Asylzentrum vor ihren Peinigern fürchtet, flieht sie erneut – in die Schweiz. Hier entscheidet das Staatssekretariat für Migration (SEM), nicht auf ihr Gesuch einzutreten, weil sie bereits im Dublin-Erstaufnahmestaat Italien registriert wurde. Als Caroline von der Rückführung nach Italien erfährt, bricht sie zusammen und wird in die Psychiatrie eingeliefert.

Ihre Anwältin rekurriert beim Bundesverwaltungsgericht – und erhält recht: Das SEM muss Carolines Asylgesuch in der Schweiz behandeln. Die Behörde hat gemäss Gerichtsentscheid den Gesundheitszustand unzureichend abgeklärt. Vor allem aber hat das SEM nicht sichergestellt, dass Caroline in Italien adäquat untergebracht und vor ihren Peinigern geschützt wird.

Caroline ist bei weitem kein Einzelfall: Dieser Zeitung liegen mehrere Urteile aus dem aktuellen und dem vergangenen Jahr vor, in denen das Bundesverwaltungsgericht das SEM harsch rügt. Immer geht es bei den gutgeheissenen Beschwerden um Opfer von Menschenhandel, immer werden die – trotz dringendem Verdacht – mangelhaften Abklärungen scharf angemahnt, und immer verweist das Gericht auf völkerrechtliche Verpflichtungen, die der Schweiz einen besseren Opferschutz vorschreiben.

Auch internationale Kritik an der Schweiz

Der Tenor der Urteile: Die Schweizer Migrationsbehörden dürfen Personen, die auf der Flucht zum Beispiel als Zwangsprostituierte oder Haushaltssklaven gehandelt wurden, nicht ohne speziellen Schutz in die Länder zurückschicken, in denen sie ausgebeutet wurden. Sie müssen entweder Garantien einholen, dass sie dort angemessen betreut werden, oder selber auf das Asylgesuch eintreten.

Dieselbe Kritik übt die Expertengruppe des Europarats zur Bekämpfung von Menschenhandel (Greta). Bereits zweimal hat das Gremium die Schweizer Migrationsbehörden schriftlich aufgefordert, Opfer im Asylbereich besser zu identifizieren und zu schützen. Dazu ist die Schweiz verpflichtet, weil sie vor acht Jahren die Europaratskonvention gegen Menschenhandel ratifiziert hat. Demnach haben potenzielle Opfer ein Anrecht auf spezialisierte Beratung, sichere Unterbringung sowie psychologische und medizinische Betreuung.

Auch das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge kommt in einer neuen Studie zur Rechtslage und Praxis in der Schweiz zum Schluss, hier sei «nicht gewährleistet», dass Asylsuchende mit besonderen Bedürfnissen – wie Menschenhandels- oder Folteropfer – frühzeitig identifiziert und gezielt unterstützt würden, etwa mit psychologischer Hilfe. Momentan hänge es «weitgehend von den einzelnen Mitarbeitenden des SEM sowie der Rechtsvertretung ab», ob solche Personen überhaupt erkannt würden, heisst es in der UNHCR-Analyse. Es fehlten Standardabläufe und Handlungsvorgaben.

Über 500 Betroffene – und eine hohe Dunkelziffer

Das Problem wird in der Schweiz umso dringlicher, als die Zahl der Betroffenen stark gestiegen ist. In den vergangenen sieben Jahren hat das SEM insgesamt 556 potenzielle Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren identifiziert, wie Sprecher Lukas Rieder sagt. «Die Dunkelziffer dürfte allerdings um ein Vielfaches höher sein», sagt Oliver Lüthi von der Flüchtlingshilfe. Auch die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) verzeichnet eine starke Zunahme von Menschenhandelsfällen aus dem Asylbereich. Letztes Jahr betreute sie 94 Fälle – im laufenden Jahr sind es bereits 97, wie Sprecherin Doro Winkler sagt.

Gemäss SEM sind 44 der 556 potenziellen Opfer von Menschenhandel direkt in einen Dublin-Erstaufnahmestaat zurückgeschickt worden. Wie häufig zudem die Rechtsvertretung per Rekurs eine vom SEM geplante Rückführung verhindert hat, ist nicht statistisch erfasst. Bei der FIZ war dies laut Winkler letztes Jahr bei 21 der 94 betreuten Personen der Fall, 4 Personen wurden trotzdem überstellt – trotz teils erheblicher Suizidgefahr, wie Winkler sagt. Die Zahlen lassen sich jedoch nicht linear hochrechnen.

Zu rasche Dublin-Entscheide?

Für sämtliche Fachstellen steht fest: Die gerichtlich gerügten «voreiligen Entscheide» des SEM hängen mit der Neuorganisation des Asylsystems zusammen. Per 1. März 2019 wurden in der Schweiz beschleunigte Verfahren in Bundesasylzentren eingeführt. Diese dauern gemäss SEM im Schnitt 59 Tage. Fälle, die weitere Abklärungen benötigen, kommen in ein erweitertes Verfahren in den Kantonen mit einer durchschnittlichen Dauer von 158 Tagen. Dublin-Fälle wie jener von Caroline werden neu bereits in 45 Tagen erledigt.

Die Organisationen kritisieren, besonders die Dublin-Entscheide würden neu «viel zu schnell» gefällt. «Die traumatisierten Opfer von Menschenhandel werden ohne die nötigen Schutzgarantien direkt an den Ort zurückgebracht, an dem sie ausgebeutet wurden. So ist die Gefahr gross, dass sie den Tätern wieder in die Hände fallen», sagt Winkler. «Potenzielle Opfer sollten zwingend in die erweiterten Verfahren kommen, um eine bessere Abklärung zu ermöglichen», fordert auch Oliver Lüthi von der Flüchtlingshilfe. «In der Regel wird jedoch der Tatbestand Menschenhandel von den Behörden noch immer als nicht asylrelevant betrachtet.»

«Die traumatisierten Opfer werden ohne die nötigen Schutzgarantien direkt an den Ort zurückgebracht, an dem sie ausgebeutet wurden.»

Doro Winkler, Sprecherin der Fachstelle Frauenhandel

Das hohe Tempo widerspiegelt sich in den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts: Seit Einführung der neuen Verfahren hat es mehr als doppelt so viele Beschwerden zur Neubeurteilung ans SEM zurückgewiesen wie im alten System. Die Rückweisungsquote ist von 6,5 auf 15 Prozent gestiegen. Das hat eine Bilanz nach einem Jahr ergeben. Im laufenden Jahr liegt der Wert bei 13 Prozent. In den weitaus meisten Fällen hatte das SEM die Asylgründe sowie die medizinischen Probleme der Asylsuchenden nicht ausreichend abgeklärt. Wie viele davon Menschenhandelsopfer sind, lässt sich gemäss einem Gerichtssprecher statistisch nicht aufzeigen.

Auch im Parlament wächst der Unmut über den mangelhaften Opferschutz in den neuen Asylverfahren. Mehrere Vorstösse verlangen Sicherheit für die Betroffenen. Der neueste stammt von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf. «Hier geht es nicht um Bagatellgeschichten – das sind gravierende Verbrechen. Es ist beschämend für die Schweiz, dass wir diese Opfer zu wenig schützen», sagt die Zürcherin. Nun müsse eine Lücke geschlossen werden: Das Opferhilfegesetz mit den entsprechenden Unterstützungsleistungen greife bislang nur, wenn der Tatort in der Schweiz war. «Betroffene aus dem Asylbereich, die im Ausland ausgebeutet wurden, fallen gesetzlich durch die Maschen», so Seiler Graf.

Das Staatssekretariat für Migration wehrt sich gegen die Vorwürfe: «Gibt es Hinweise auf Menschenhandel, wird systematisch eine spezielle Anhörung mit den potenziellen Opfern durchgeführt. Zudem gewähren wir eine Erholungs- und Bedenkzeit», sagt Sprecher Lukas Rieder. In Dublin-Verfahren werde der Erstaufnahmestaat zweifach über die Problemlage informiert. «Für diese Praxis haben wir seit Anfang Jahr einen klar definierten internen Prozess», betont Rieder. Die Prozesse würden laufend an die Fortschritte bei der Bekämpfung des Menschenhandels angepasst.

Die 26-jährige Caroline, die über Italien in die Schweiz geflohen war, befindet sich immer noch hier. Sie wartet auf den neuen Entscheid der Migrationsbehörden. Sie ist weiterhin in psychologischer Betreuung.

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