Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Ein brutales Geschäft erreicht die Schweiz

Zwei junge Frauen warten vor ihrer Reise nach Europa im nigerianischen Benin City auf das Juju-Ritual. Foto: Lorena Ros (Panos)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Es beginnt mit einer Schatulle: Darin werden Haare, Nägel und die Unterwäsche der jungen Frau aufbewahrt – abgeschnitten und ausgezogen während eines Rituals in einem Juju-Tempel. In Trance schwört das Mädchen bedingungslosen Gehorsam. Der Priester warnt: Brichst du deinen Eid, wird der Halbgott Eshu dir böse Geister schicken, die dich und deine Familie quälen.

Die Schatulle ist ein Pfand, das die junge Frau an ihre Peiniger bindet. Denn Juju ist eine in Westafrika weit verbreitete religiöse Praktik, deren Voodoo-Rituale das Verhalten der Anhänger steuern. In Nigeria nutzen das Menschenhändler aus, um ihre Opfer gefügig zu machen. Mit falschen Versprechen locken sie die jungen Frauen nach Europa. Sie stellen ihnen Arbeit in einem luxuriösen Haushalt in Aussicht – und zwingen die Mädchen stattdessen in die Prostitution.

Als Zuhälterinnen in Europa agieren sogenannte Madams. Sie schleusen die Opfer über ein mafiöses Netzwerk zunächst nach Italien oder Spanien. Dort konfrontieren sie die jungen Frauen mit fiktiven Reiseschulden von bis zu 70'000 Euro. Für die Mädchen gibt es kein Entkommen: Sie haben den Juju-Schwur geleistet. Brechen sie ihn, droht ihrer Familie in Nigeria Gewalt, Ächtung, der soziale Tod. Also müssen sie ihren Körper verkaufen, um die Summe abzubezahlen.

Dumpingpreise von 8 Euro

Der Juju-Schwur, die Madams, die Reiseschulden: Der nigerianische Menschenhandel hat spezifische Eigenheiten. Und er boomt. NGOs schätzen, dass sich in Europa mittlerweile über 50'000 Nigerianerinnen prostituieren. Die Frauen aus dem westafrikanischen Land führen die EU-Statistiken von aussereuropäischen Menschenhandelsopfern an – und zwar deutlich. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) spricht gar von einer Krise. Die Zahl junger Nigerianerinnen, die in Italien ankommen, steige dramatisch an, auf jährlich bis zu 10'000 Frauen. Mehr als 80 Prozent davon landeten in der Zwangsprostitution.

In den EU-Südstaaten ist der Markt so gesättigt, dass sich die Frauen dort für Dumpingpreise von 8 Euro anbieten müssen. Deshalb weichen die Madams mit «ihren» Mädchen in andere Länder aus – auch in die Schweiz, wie die zuständigen Behörden und Opferhilfeorganisationen feststellen. «Wir erhalten zunehmend Meldungen von Sozialarbeiterinnen, Gesundheitspersonal und Freiern, dass sehr junge Nigerianerinnen auf der Strasse Kunden anwerben», sagt Irene Hirzel, Geschäftsführerin von Act212, der nationalen Meldestelle gegen Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung. «Zudem fragen uns Polizeien und Spitäler vermehrt für Schulungen zum Thema nigerianische Zwangsprostitution an.» Denn die Institutionen stossen gemäss Hirzel stets auf eine Mauer des Schweigens, wenn sie mit Nigerianerinnen zu tun haben, «selbst wenn diese Verletzungen aufweisen, die eindeutig auf eine Dritteinwirkung schliessen lassen.» Zu gross sei die Angst der Frauen, den Juju-Schwur zu brechen.

Von Bern in die Westschweiz ausgewichen

Diese Erfahrung hat auch Alexander Ott, Polizeiinspektor der Stadt Bern, gemacht. Dort hat die Zahl nigerianischer Prostituierter in den letzten zwei Jahren stark zugenommen. Zeitweise hielten in der Altstadt bis zu 20 Frauen Ausschau nach Freiern. Die Fremdenpolizei geht davon aus, dass auch sie von Madams unter Druck gesetzt werden. Doch bei Personenkontrollen wollten die Frauen, die allesamt über zweifelhafte italienische Aufenthaltspapiere verfügten, keine Aussage machen. Wegen der Kontrollen sei nun ein grosser Teil der Nigerianerinnen aus der Altstadt verschwunden, aber nicht aus der Schweiz, sagt Ott. «Wir haben Hinweise, dass sie in die Westschweiz ausgewichen sind.»

Ein grosser Teil der Opfer dürfte sich aber nicht auf den Schweizer Strassen finden – sondern in den Asylheimen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) verzeichnete von 2014 bis 2016 192 potenzielle Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren. Davon waren 54 Nigerianerinnen. Das ist die weitaus höchste Zahl aller erfassten Nationen. Sie sind gemäss Opferschutzstellen entweder vom Strassenstrich in Italien geflohen oder werden von ihren Madams auch in der Schweiz während des Asylverfahrens ausgebeutet. Experten gehen allerdings davon aus, dass diese Zahl lediglich einen Bruchteil der Betroffenen abbilde. Die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) etwa kritisiert, dass die Opfer im Asylverfahren viel zu häufig nicht erkannt würden. «Und wenn doch, werden sie nicht ausreichend geschützt», sagt Sprecherin Rebecca Angelini.

Wegen des Asylverfahrens bleibe den Betroffenen der Zugang zu Opferschutzmassnahmen verwehrt. Gemäss der Europaratskonvention gegen Menschenhandel müssten potenzielle Opfer sicher untergebracht sowie psychologisch und medizinisch betreut werden. Das sei in einer Asylunterkunft nicht möglich, sagt Angelini. Besonders stossend sei die Situation der Dublin-Fälle: Diese würden ins Erstaufnahmeland zurückgeschickt – und gerieten dort erneut in die Fänge der Händler. «Dublin-Verfahren werden selbst dann nicht gestoppt, wenn ein Opfer identifiziert wurde», sagt auch Claire Potaux von IOM Schweiz. Nur ein Vermerk im Transferformular gebe den italienischen Behörden einen Hinweis. «Niemand weiss aber, was dann geschieht.»

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Das SEM wehrt sich gegen die Vorwürfe. «Unsere Mitarbeiter werden seit 2014 zu diesem Thema ausgebildet und sensibilisiert», sagt Sprecher Lukas Rieder. Zudem erhalte ein potenzielles Opfer den Kontakt zu einer Opferberatung. Weitere Massnahmen seien im Rahmen des Nationalen Aktionsplans gegen Menschenhandel geplant. Das reiche nicht, sagt Angelini. «Kein Einziges der Opfer hat sich aufgrund des SEM-Info-Flyers bei uns gemeldet.»

Auch im Parlament wächst die Besorgnis über die Situation. In zwei Vorstössen fordern die SP-Nationalrätinnen Min Li Marti und Yvonne Feri Klarheit über den Schutz der Opfer. «Sie müssten in der Schweiz Asyl erhalten – auch wenn sie ein Dublin-Fall sind. Sonst fallen sie durch alle Maschen», sagt Feri. Und Marti fordert, dass das Dublin-Verfahren zumindest ausgesetzt werde, bis Klarheit bestehe. «Auch bürgerlichen Politikern müsste einleuchten, dass diese Frauen speziellen Schutz brauchen.»