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Prozessflut wegen Klimademos
Sie befinden sich in einem «Nervenkrieg» mit der Justiz

Das Aktivistenpaar Beate und Antoine Thalmann hat sich während des Studiums an der Universität Oxford kennen gelernt.
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Es ist eine wahre Flut von Prozessen. 200 Klimaaktivisten und -aktivistinnen müssen sich in Lausanne vor dem Bezirksgericht verantworten. Sie hatten 2019 an unbewilligten Klimaprotesten teilgenommen. Seit September werden sie Woche für Woche in kleinen Gruppen von vier bis fünf Aktivisten abgeurteilt. Die letzte der insgesamt 38 Verhandlungen ist für Februar angesetzt. Von einem «Nervenkrieg» zwischen Justiz und Aktivisten spricht deren Anwalt Robert Ayrton.

Unter den Angeklagten ist auch das Ehepaar Beate und Antoine Thalmann. Der Prozess gegen Beate Thalmann und vier Mitangeklagte fand im Dezember statt. «J’assume!» – «Ich stehe zu allem, was ich getan habe», sagte die 36-jährige Physikerin dem Einzelrichter. Einmal blockierte sie eine Brücke, ein anderes Mal eine Strasse, verharkte sich mit anderen Aktivisten zu einer Menschenkette oder klebte ihre Handfläche an die Achse eines Anhängers, um es der Polizei so schwierig wie möglich zu machen, die Demo aufzulösen.

Natürlich seien die Kundgebungen unbewilligt gewesen, sagte die 36-Jährige dem Richter. Aber die fortschreitende Klimaerwärmung bedränge die Menschheit, die Politik bleibe untätig, und Demonstrieren sei ein Menschenrecht.

Ins Visier der Justiz geraten

Die Staatsanwaltschaft sah das schon 2019 anders und verschickte an 250 Aktivistinnen und Aktivisten Strafbefehle. 200, darunter Beate Thalmann, rekurrierten gegen die Bestrafung und provozierten so einen Strafprozess. Sie gingen davon aus, dass das Bezirksgericht alle Beschuldigten in einem Mammutprozess in einer Messehalle aburteilen würde. Doch die Bezirksrichter wollten Diskretion und kein Spektakel.

Während Beate Thalmann derzeit auf ihr Urteil wartet, hat es ihr Ehemann Antoine schon bekommen. Sein Prozess endete mit einer Strafe von 1400 Franken, die an eine dreijährige Bewährungsfrist gebunden ist. Dazu kommen 1000 Franken Busse und 700 Franken Gerichts- und Untersuchungskosten. Antoine Thalmann hat sein Urteil längst ans Kantonsgericht weitergezogen. Sein Anwalt Robert Ayrton kündigte an, bei Verurteilungen in der Schweiz den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzuschalten.

Auch in Lausanne machen es Klimaaktivisten der Gruppierung Extinction Rebellion der Polizei so schwer wie möglich, Kundgebungen aufzulösen. 

Als einziger der 200 Aktivisten musste Antoine Thalmann zum Auftakt der Prozessserie allein vor Gericht erscheinen. Mitangeklagte sagen, damit habe die Staatsanwaltschaft ein Exempel statuieren und andere Angeklagte vor Beginn des Prozessmarathons einschüchtern wollen.

Antoine Thalmann sieht das anders. «Die Polizei hat mich auf mehreren Kundgebungsfotos identifiziert. Auch darum bin ich von allen Aktivisten derjenige mit den meisten Strafbefehlen und den unterschiedlichsten Straftaten», sagt der 30-Jährige. Dass er ins Visier der Justiz gelangte, liege womöglich auch daran, dass ihn Journalisten wiederholt als Co-Gründer der lokalen Gruppe von Extinction Rebellion bezeichneten. Dabei habe die international aktive Bewegung weder Hierarchien noch einen führenden Kopf, so Thalmann.

In den Prozessen geht es nicht nur um die unbewiligten Protestaktionen. Es fällt auf, wie stark die Richter auch nach dem Privatleben der Angeklagten fragen: Einkommen, Vermögen, Krankenkassenprämien, Ausbildungen, Wohnformen, Wohnungsmieten, Beziehungs- oder gar Aufenthaltsstatus werden verhandelt. Strafregistereinträge drohen.

«Die Strafprozesse sind Teil unserer Arbeit.»

Beate und Antoine Thalmann, Lausanner Klimaaktivisten

«Das stört uns nicht», sagen Beate und Antoine Thalmann bei einem Treffen. Sie werten jede Verurteilung als Beweis dafür, dass die Justiz Teil des Systems sei, das die Bedrohung durch den Klimawandel ignoriere. Darauf wolle man die Aufmerksamkeit lenken. «Die Prozesse sind Teil unserer Arbeit», sagt Antoine Thalmann.

Im Bezirksgericht Lausanne gehen Klimaaktivisten derzeit ein und aus.

Das Paar hat sich vor Jahren an der Universität Oxford kennen gelernt. Der Lausanner studierte Volkswirtschaft, die gebürtige Kölnerin arbeitete an einem Doktorat in Physik. In Oxford engagierten sich beide in der Klimabewegung, tummelten sich in Intellektuellenzirkeln, wälzten gemeinsam Ideen, wie man die Welt zum Besseren verändern könnte – und verliebten sich ineinander.

Antoine Thalmann schloss sich derweil Extinction Rebellion an. Er blockierte eine Zufahrtstrasse zum Flughafen Heathrow, legte eine britische Kohlemine lahm und verunmöglichte Frachtschiffen in Amsterdam die Zufahrt zu einem Kohlehafen. Um sich ein gemeinsames Leben aufzubauen, beschlossen Beate und Antoine Thalmann, zu heiraten und nach Lausanne zu ziehen. Am Genfersee wollten sie einem Lebensideal näherkommen, wie sie es abendfüllend diskutiert hatten: abseits von Konsum und Kapitalismus, auf einen nachhaltigen Lebensstil ausgerichtet.

Beate Thalmann kehrte ihrem Beruf als Physikerin den Rücken und wagte einen Neuanfang. Mitten im Corona-Lockdown beschloss sie, eine Berufslehre als Obstbäuerin zu beginnen. Auf einem Hof oberhalb von Lausanne kümmert sie sich heute um das Wohl von Apfel- und Nussbäumen, hält Rebhänge in Schuss und produziert Nahrungsmittel. Sie könnte sich vorstellen, dass sie und ihr Mann sich dereinst mit anderen Paaren zusammentun und eine Art Landwirtschaftskooperative gründen, auf der sie auch leben.

«Die Jugendlichen wissen genau, dass wir gegen die Wand fahren und sie eine schwierige Zukunft haben werden.»

Antoine Thalmann, Klimaaktivist

Antoine Thalmann wiederum unterrichtet einen Tag pro Woche Wirtschaft an einer Berufsschule. Er sagt, sein Ziel sei es, jungen Menschen zu helfen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden, und sie dazu zu bringen, ihre Überzeugungen zu hinterfragen. Seine Arbeit als Aktivist mache er im Unterricht nie zum Thema, beobachte aber, dass die Jugendlichen genau wüssten, «dass wir gegen die Wand fahren und sie eine schwierige Zukunft haben werden». Der 30-Jährige versucht selbst so ressourcenarm wie möglich zu leben, aber auch er hat im Sommer nach zehn Jahren wieder einmal ein Flugzeug genommen, um von der Hochzeit seines Cousins in Portugal zurück in die Schweiz zu fliegen. «Niemals würde ich hingegen in ein Flugzeug steigen, um für eine Woche Strandferien nach Mallorca zu fliegen», betont er.

Obwohl Antoine Thalmann Strassenproteste wichtig und sinnvoll findet, versucht er mittlerweile Dinge auch auf institutionellem Weg zu ändern. Er trat den Grünen bei und hat bereits sein erstes politisches Mandat. Im November wurde der 30-Jährige in den Einwohnerrat der Lausanner Vorortgemeinde Prilly gewählt.

Als Politiker will er im Mikrokosmos Prilly nun versuchen, einen Einwohnerrat zu schaffen, der Ideenpolitik macht und nicht nach parteipolitischen Kriterien funktioniert. Konkret denkt Antoine Thalmann über die Entwicklung eines Klimaplans nach, für den über Themen wie Parkplätze, Geschwindigkeitsbeschränkungen, eine Velostrategie, Gratis-ÖV und Subventionen an umweltbewusste Unternehmen diskutiert wird.

Der «Nervenkrieg» am Bezirksgericht Lausanne geht derweil weiter, während verurteilte Aktivisten Urteil um Urteil ans Kantonsgericht weiterziehen. Eines hat die Staatsanwaltschaft aber geschafft: Eine Kundgebung von Extinction Rebellion gab es in Lausanne seit längerem nicht mehr.