Zu viel Wind am SechseläutenDer Böögg blieb Böögg – die Zusammenfassung des Tages
Etwas mehr Frauen durften mitlaufen. Und Roger Köppel hat sich nicht braun angemalt. Ansonsten war es ein klassisches Volksfest. Dann zischten Böen durch Zürich.
Um 18 Uhr passiert: nichts.
Zünfter tragen Blumen, rauchen, trinken. Ihre Kinder essen Süssigkeiten, spielen, staunen. Und Tausende sind gekommen, um zuzuschauen, wie der Böögg abbrennt, dieser kuriose Zürcher Schneemann, der den Sommer prophezeit: Klimax des Zürcher Volksfestes. Doch der Böögg bleibt heute Böögg, explodiert nicht, brennt nicht. «Het kä Lust», wie jemand auf X schreibt. «Böe 1 : Böögg 0.»
Kurz vor 18 Uhr sagt Felix H. Boller, der Präsident des Zentralkomitees der Zünfte Zürich (ZZZ), live auf SRF: «Das ist noch nie passiert. Es ist eine Tragödie.» Das Risiko, den Böögg zu verbrennen, sei zu hoch. «Starker Westwind. Sicherheitsrisiko. Funkenflug. Gefahr einer Massenpanik.» Auf dem Sechseläutenplatz wirbeln Böen den Sand auf. Die Fahnen der Zünfte schlingern. Manche Böen erreichen über 80 Kilometer pro Stunde. «Andere Möglichkeiten wie das Wässern des Bööggs oder die partielle Räumung des Platzes haben wir in Erwägung gezogen», sagt Boller. «Wir hatten keine Alternative.»
Bööggbauer Lukas Meier hatte im Voraus wegen der angekündigten Böen die Arme des Bööggs verstärkt und sie besser festgezurrt. Nachdem klar wird, dass der Böögg Böögg bleibt, sagt er zu «Zueritoday»: «Ich könnte heulen. Wir müssen wieder einen Kran aufbieten, um den Böögg abzumontieren.»
Später, nachdem die Zünfter auf ihren Pferden um den Böögg geritten sind, wird der mit Bölllern gefütterte Schneemann von Sicherheitsleuten umstellt und bewacht. Victor Rosser, Kommunikationschef des ZZZ, sagt: «Der Böögg muss so schnell wie möglich an einen sicheren Ort.»
Regierungsrat Mario Fehr schlägt vor, den Böögg zu einem späteren Zeitpunkt auf dem Säntis zu verbrennen, weil Appenzell Ausserrhoden dieses Jahr Gastkanton ist.
Landammann Yves Noël Balmer sagte zur NZZ, es sei mehr oder weniger beschlossene Sache, dass der Böögg auf Appenzeller Boden verbrannt werde. Wann und wo, werde in den nächsten Tagen kommuniziert.
«Es tut ein bisschen weh im Herz»
Es ist das erste Mal, dass der Böögg auf dem Sechseläutenplatz steht und nicht angezündet wird.
Schief ging aber auch schon in früheren Jahren einiges. 1921 zündete ein Sekschüler den Scheiterhaufen schon um 14 Uhr an. 1950 kippte der Schneemann. 2006 enführten Linksaktivisten den Böögg. 2016 fiel der Kopf ohne Knall ab.
SVP-Regierungsrat Ernst Stocker sagt: «Mein Enkel war heute das erste Mal am Sechseläuten. Er ist Böögg-Fan und wird sehr enttäuscht sein.» Aber abgesehen von den Böen sei alles super gewesen. «Ich konnte kaum alle Blumen tragen, so viele habe ich gekriegt.»
Die meisten angefragten Zünfter sehen das ähnlich. «Ich will nicht um den Böögg reiten, wenn Gluten auf mich hinunterfallen», sagt Beat Spielmann von der Zunft Riesbach. «Es tut ein bisschen weh im Herz. Etwas fehlt», sagt ein anderer Zünfter. Und sein Kollege: «Ich bin kein Feuermann, aber ich sehe die Gefahr nicht wirklich. Ich hätte den Böögg angezündet.»
Abgesehen vom Böögg, der ein Böögg blieb, sorgte die Gruppe «Drop Fossil Subsidies» noch für Aufregung. Die Aktivistinnen und Aktivisten übergossen sich auf der Bahnhofstrasse mit Öl, um auf die Klimaerwärmung aufmerksam zu machen. Zudem kollidierte der Sechseläuten-Termin mit der Session im Nationalrat. Dank der Abwesenheit von bürgerlichen Zürcher Nationalrätinnen und Nationalräten kam ein Minderheitsantrag zur Besteuerung von Hochseeschifffahrtsangestellten durch. «Heute waren nicht so wichtige Abstimmungen», sagt Gregor Rutz, SVP. Er lief bei der Zunft Witikon mit, war zum 43. Mal am Sechseläuten.
Sonst lief das Volksfest wie immer. «Hallo Steffeli», sagte ein Vater, der mit seiner Zunft im Umzug lief, zu seiner Tochter, die auf einem Bänkli zuschaute. Die Kinder am Rand sammelten fleissig Maoam, Sugus und Haribo. Als ein Zünfter ein Weggli verteilen wollte, fiel es in den Rossmist. Eine Mutter nahm es in die Hand und pustet es ab und gab es ihrem Kind. «Kann man gut noch essen.»
Barbara Andermatt (75) war schon als Kind auf den Schultern ihres Vaters beim Sechseläuten dabei. «Meine Grossmutter hat sich schon damals genervt, dass sie nicht mitlaufen kann», sagt die Zürcherin. Sie selbst habe als Kind immer Angst vor den Mitgliedern der Schneiderzunft und ihren Scheren gehabt. «Ich habe Daumen gelutscht und Angst gehabt, dass die Zünfter mir alle Finger abschneiden», sagt sie.
Linken-Politiker Gregor Gysi lief mit
Die Musikgruppen, die im Umzug mitlaufen, spielen mitunter auch Pop. «Dancing Queen» von Abba zum Beispiel. Eine Frau wippt dazu auf dem Sattel eines Pferds. «Sind wir die einzigen, die Stimmung machen?» fragt sie ihren Kollegen. Abba statt reine Marschmusik – und auch sonst wird das Sechseläuten in Mikroschrittchen progressiver. Bei drei Zünften durften in diesem Jahr auch die Töchter der Zünfter mitlaufen. Die Zunft zum Kämbel, als Beduinen verkleidet, stellte es den Zünftern zum ersten Mal frei, ob sie ihre Gesichter wie früher braun schminken wollen oder nicht. SVPler Roger Köppel verzichtete auf die Farbe. Die meisten anderen Kämbler ebenfalls.
Zwischen die Zünfter mischten sich immer wieder Silvesterchläuse aus dem Gastkanton Appenzell Ausserrhoden. FDP-Ständerat Andrea Caroni lief als Ehrengast mit. Er sagt: «Wenn ich einen Brauch nach Appenzell exportieren könnte, wäre es das Sechseläuten.» Helena Maurer und Daniela Hartmann sind aus Herisau angereist. Sie sagen: «Viele Zürcherinnen und Zürcher denken, wir leben hinter dem Mond und die Schweiz hört in Winterthur auf. Aber das stimmt nicht!»
Noch von weiter her gekommen ist der deutsche Linken-Politiker Gregor Gysi, unter den vielen Ehrengästen so etwas wie der Star. Was macht er am bürgerlichen Sechseläuten? Er sei schon mehrmals eingeladen worden – jetzt habe es endlich geklappt.
«Ich habe Vorfahren in der Schweiz, darum interessieren mich das Leben und die Traditionen hier.» Mit den Zünftern habe er sich über die beiden Kriege in der Ukraine und in Gaza unterhalten.
Der Böögg, der Böögg bleibt, wirkt da wie eine lächerliche Randnotiz. (tiw)
Die Kamele erinnern ihn an die Heimat
Der gebürtige Tunesier Adel Benjemina lebt schon lange in der Schweiz und wohnt in Opfikon. Für ihn ist das Sechseläuten mit seiner besonderen Atmosphäre ein wichtiges Fest. Das umstrittene Brownfacing der Zunft zum Kämbel stört ihn nicht. Im Gegenteil: Die Kamele erinnern ihn an seine Heimat und an seine Kultur, wie er sagt. Er wolle auf jeden Fall noch dem Umzug zusehen und die spezielle Stimmung in der Stadt bei einem Abendessen geniessen. (tiw)
Warten auf den Start beim Sechseläutenplatz
Die 75-jährige Barbara Andermatt kommt, seit sie ein Kind ist, ans Sechseläuten. Dabei schwinge immer auch ein bisschen Nostalgie mit, sagt die gebürtige Zürcherin. Als Kind habe sie der Vater jeweils auf den Schultern getragen, danach – als sie etwas grösser war – habe er eine Bockleiter mitgenommen, auf welcher sie den Umzug besser sehen konnte.
«Damals habe ich noch am Daumen gelutscht», erinnert sich die 75-Jährige. «Aber am Sechseläuten habe ich Angst gehabt, dass mir die Mitglieder der Schneiderzunft den Daumen abschneiden würden. Deswegen bin ich auf die Hände gesessen, damit das nicht passiert.» Heute sitzt sie gelassen mit den Händen im Schoss beim Sechseläutenplatz bereit und geneisst den Sonnenschein. (tiw)
Wie komme ich ans Sechseläuten – und wieder weg?
Ausgerechnet am heutigen Sechseläutenmontag ist im Bahnhof Stadelhofen bei einer Streckenkontrolle ein Schaden an einer Weiche entdeckt worden. Der S-Bahn-Verkehr zwischen Stadelhofen und Stettbach ist deshalb stark beeinträchtigt. Hier erfahren Sie, wie Sie rechtzeitig zum Start der Bööggverbrennung nach Zürich gelangen und wieder nach Hause. (net)
Ein Böögg mit Hosenträgern
Seit dem frühen Montagmorgen steht der Böögg bereits auf einer Stange in der Mitte des Zürcher Sechseläutenplatzes. Während des Vormittags wurde unter ihm langsam und konzentriert der Holzstoss aufgeschichtet. Um Punkt 18 Uhr wird er angezündet.
Der diesjährige Böögg ist unter anderem mit Hosenträgern und einer Pfeife ausgestattet, wie sie für den Kanton Appenzell Ausserrhoden typisch sind. Dieser ist am heutigen Frühlingsfest zum ersten Mal als Gastkanton dabei.
Das Sechseläuten wurde bereits am Freitag eröffnet, unter anderem mit einem gemeinsamen Marsch von Gastkanton-Delegation und Zunftmeistern sowie weiteren Gästen zum Lindenhof. Am Sonntag folgte der Kinderumzug bei herrlichem Sommerwetter. (tif/sda)
Wo ist die Beflaggung der VBZ-Trams?
Am Sechseläutenmontag ist der Tramverkehr in der Zürcher Innenstadt zwar eingeschränkt (die Linien 4, 5 und 15 werden zeitweise eingestellt, auf anderen Linien wird die Streckenführung angepasst), die Fahrzeuge wurden bisher aber immer für das Fest herausgeputzt. Genauer zierten kleine Fahnen das Cockpit der Trams.
Doch das ist seit 2021 vorbei. Die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) hätten die Beflaggung zu festlichen Gelegenheiten zwar gerne weitergeführt, wie VBZ-Sprecherin Silvia Behofsits auf Anfrage sagt. Allerdings müsse man aus Sicherheitsgründen derzeit darauf verzichten.
«Die Beflaggung von jeweils rund 500 Fahrzeugen muss in den Depots und Garagen während der Nacht erfolgen, dies bei einer angespannten Personalsituation», sagt Behofsits. Die Platzverhältnisse an und zwischen den Fahrzeugen seien sehr beschränkt, ein genügend sicheres Arbeiten sei deshalb momentan nicht möglich. «Es werden aber alternative Lösungen zu einer klassischen Beflaggung geprüft», sagt Behofsits und versichert ausserdem, dass die Massnahme nichts mit den grösseren Flexity-Trams zu tun habe. (tif)
Sturmfester Böögg
Nach den sommerlichen Temperaturen der letzten Tage müssen die Zünfter heute damit rechnen, im Regen zu stehen. Eine Kaltfront zieht über Zürich und bringt momentan lokal sogar Blitz und Donner mit sich.
Am Nachmittag sollte es aber gemäss Michael Eichmann von MeteoNews je länger, je freundlicher werden. «Zum Start des Umzugs könnte es noch vereinzelte Schauer geben, aber um 18 Uhr müsste es trocken sein», sagt der Meteorologe auf Anfrage.
Böögg vor Böen geschützt
Heikler dürfte es mit dem Wind werden. Laut Eichmann frischt er im Verlauf des Tages auf und dürfte bereits am Mittag um die 40 bis 50 Stundenkilometer haben. «Am Nachmittag erwarten wir einen Westwind mit bis zu 60 Stundenkilometern, was sich auf die Böggverbrennung auswirken könnte», sagt Eichmann.
Es sei kein stürmischer, aber ein zügiger Wind, so der Meteorologe. Zum Vergleich: Sturmböen haben Windspitzen von über 75 Stundenkilometern. Trotzdem rät Eichmann Besucherinnen und Besuchern dazu, sich während des Sechseläutens westlich vom Böögg hinzustellen, «damit man den Rauch nicht ins Gesicht geblasen bekommt.»
Der Böögbauer Lukas Meier hat bereits auf die angekündigten Böen reagiert und die Arme des Böögg verstärkt und sie besser festgezurrt. (tif)
Die Umzugsroute und die Teilnehmenden
Der Umzug startet um 15 Uhr. Die Route führt die Zünfte über die Bahnhofstrasse, um den Bürkliplatz herum zurück zur Bahnhofstrasse und von dort über die Rudolf Brun-Brücke dem Limmatquai entlang bis zum Sechseläutenplatz. 3500 Zünfter werden erwartet, über 350 Reiter, 50 Pferdegespanne und 30 Musikkorps.
Die Tickets für die Sitzplätze entlang der Route und die Stehplätze mit Blick auf den Böögg am Sechseläutenplatz sind bereits alle verkauft. Falls Sie fürs nächste Jahr eines erstehen wollen, finden Sie hier die wichtigsten Informationen zum traditionellen Zürcher Frühlingsfest. (aba)
Bruch mit Traditionen
Voran schreitet die Zunft zum Kämbel – und da gilt es schon das erste Mal genau hinzusehen. Die Kämbel-Zunft verkleidet sich als Beduinen, bislang gehörte ein braun geschminktes Gesicht zum Kostüm. Das ist dieses Jahr erstmals anders: Den Zünftern ist es freigestellt, ob sie sich schminken wollen. Was macht also «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel, das prominenteste Mitglied der Zunft?
An zweiter Stelle folgt die Zunft Höngg, an vierter die Zunft zur Meisen und als drittletzte die Zunft zu den drei Königen: Das sind die drei Zünfte, die beschlossen haben, Frauen unter bestimmten Bedingungen aufzunehmen und am Umzug mitlaufen zu lassen. Das ist im Zunftwesen heute immer noch umstritten, historisch aber eigentlich nicht gerade revolutionär. 1336 gab es sogar eine Zunft, die genderte und neben der männlichen auch die weibliche Form verwendete. (aba)
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