So sieht uns das Ausland«Blindflug», «zweites Schweden», «Spezialfall» – Befremden über Schweizer Corona-Strategie
Hohe Fallzahlen, wenig Einschränkung: Der Sonderweg des Bundesrats wird im Ausland ganz genau beobachtet. Spitze Bemerkungen inklusive.
Testen, Contact Tracing, Isolation, Quarantäne: So wollten die Behörden die zweite Coronawelle eindämmen. Doch die Strategie ist gescheitert: Die Schweiz hatte bis vor wenigen Tagen einen der steilsten Anstiege weltweit. Jetzt sinkt die Kurve der Neuansteckungen wieder leicht. Es sei aber «zu früh, von einer Trendwende zu sprechen», sagte Stefan Kuster von Bundesamt für Gesundheit am Dienstag. Die Zahlen seien im internationalen Vergleich «nach wie vor sehr, sehr hoch».
Im Ausland sorgt die Entwicklung in der Schweiz denn auch für Kopfschütteln, wie verschiedene Medienberichte zeigen. Hier eine Auswahl:
«Die Schweiz hat immer noch das Gefühl, ein Spezialfall zu sein.»
Was ist nur passiert mit dem Land, das bekannt ist für seine Sicherheit, Verlässlichkeit und gute Regierungsführung? Das fragt sich die renommierte US-Fachzeitschrift Foreign Policy – und kommt zum Schluss: Die Schweiz hat immer noch das Gefühl, ein Spezialfall zu sein. Sie sei von Kriegen, grossen Naturkatastrophen und Terrorattacken verschont geblieben, nicht einmal die globale Finanzkrise habe sich wirklich aufs Portemonnaie der Bevölkerung ausgewirkt. Das alles habe zur Vorstellung geführt, das Land sei immun gegen die Probleme der Welt.
Durch den vergleichsweise glimpflichen Verlauf der ersten Welle hat sich dieser Eindruck laut dem Fachblatt noch verstärkt. Deshalb hat die Schweiz die Massnahmen früher und stärker gelockert als andere Staaten, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen – das werde höher gewichtet als Leben zu retten, kritisiert Foreign Policy. Langfristig könne sich diese Strategie aber als Bumerang erweisen (Epidemiologe Marcel Salathé erklärt, wie sich eine neue Eskalation verhindern liesse).
«Zu schnell zurück zum Kantönligeist.»
Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» spricht von einem «Blindflug» der Schweiz. Man habe die Verschnaufpause im Sommer nicht dazu genutzt, die Testkapazitäten und die Kontaktnachverfolgung stark auszubauen, wie es die wissenschaftliche Taskforce forderte. Stattdessen sei man «zu schnell zum Kantönligeist zurück», als der Bund die Hoheit im Kampf gegen Corona wieder abgab.
Die Lockerungen, welche die Kantone danach umsetzten, gingen laut der FAZ zum Teil weit über das hinaus, was in anderen europäischen Ländern geschah. Und auch die jetzigen Einschränkungen bezeichnet die Zeitung als «vergleichsweise moderat». Wegen des Widerstands aus der Wirtschaft stehe die erfolgsverwöhnte Schweiz, die in Weltranglisten aller Art meist weit vorne lande, inzwischen sehr schlecht da.
«Die Schweiz ist das zweite Schweden.»
Kein Lockdown, kaum Regeln und Vorschriften, die Regierung schreibt wenig vor, sie mahnt die Bürger nur: Für die deutsche Zeitung «Welt» klingt das, als ginge es um Schweden. Doch sie beschreibt damit den Schweizer «Sonderweg». Das Land setze auf Eigenverantwortung – und tue alles, damit das Leben wie gewohnt weiterlaufe. Damit mache die Eidgenossenschaft ihrem Ruf als unabhängige Einzelgängerin alle Ehre. «Die Schweiz ist beim Corona-Management das zweite Schweden», schlussfolgert die Zeitung.
«Warum hält sich der Bundesrat weiterhin zurück?»
In der Schweiz gebe es praktisch keine Kennzahl mehr, die nicht alarmierend wäre, stellt die «Süddeutsche Zeitung» fest. Das Land gehöre zu den am stärksten betroffenen in Europa – im Gegensatz zu den meisten Nachbarstaaten gelte hier allerdings kein landesweiter Shutdown. Dass vor allem die Kantone über Massnahmen entscheiden, führt aus Sicht der Zeitung zu grossen regionalen Unterschieden zwischen der Deutschschweiz und der Romandie, wo man strenger sei.
Obwohl sich die Lage ein wenig beruhigt hat, bleibt laut der «Süddeutschen» die Frage offen, «warum der Bundesrat sich mit harten Massnahmen weiterhin zurückhält». Als Grund dafür macht die Zeitung die Angst vor ökonomischen Verlusten aus. Diese sei stets ein wichtiges Argument in der wirtschaftsliberalen Schweiz.
«Eine riskante Strategie.»
Ein Grossteil Europas habe einen zweiten Lockdown verhängt, nur die Schweiz wehre sich dagegen, kritisiert die «Financial Times». Die neusten Massnahmen, die der Bundesrat eingeführt hat, werden von der britischen Wirtschaftszeitung als «erstaunlich mild» bezeichnet. Grundsätzlich spricht sie von einer «riskanten Strategie» der Behörden.
Zwar sei die Schweiz wirtschaftlich gesehen bislang relativ gut gefahren, aber auf Kosten des Gesundheitssystems. Ein Problems sei im Moment die Konsens-orientierte Politik zwischen Bund und Kantonen, die Entscheidungen verzögere, so die «Financial Times». Zudem sei in der Bevölkerung die Ansicht weit verbreitet, dass individuelle Freiheiten integraler Bestandteil der Schweizer Identität seien. «Nicht alle sind aber überzeugt, dass Eigenverantwortung der richtige Weg ist», schreibt die Zeitung.
«Perfektes Beispiel dafür, was Deutschland nicht machen sollte.»
Auch der Epidemiologe und Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, hat sich via Twitter zur Situation in der Schweiz – als denkbar schlechtes Beispiel – geäussert:
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