Boom und WohnungsnotDie Schweiz zieht immer mehr Grenzgänger aus Frankreich an
So viele wie noch nie pendeln zum Arbeiten in die Schweiz. Ein Drittel der Leute, die in Genf arbeiten, wohnt in Frankreich – auch viele Schweizer wandern aus. Wir zeigen die Gründe auf.

- Seit 2020 hat sich das Wachstum des Anteils französischer Grenzgänger in der Genferseeregion verdoppelt – auch wegen der gemeinsamen S-Bahn Léman Express.
- Günstige Wohnkosten in Frankreich locken zunehmend Schweizer über die Grenze.
- Gemäss Comparis-Umfrage erwägen 30 Prozent der Westschweizer einen Umzug nach Frankreich.
Ab 1. April könnten auch Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Deutschland, Frankreich, Liechtenstein und Österreich die Cumulus-Kreditkarte beantragen, meldet die Migros Bank. Sie setzt damit auf ein schnell wachsendes Kundensegment.
Die Zahl der Menschen, die im Ausland wohnen, aber in der Schweiz arbeiten, nimmt bereits seit Einführung der Personenfreizügigkeit stetig zu. In den letzten fünf Jahren hat sich der Zustrom jedoch stark beschleunigt. Die Zahl der Grenzgänger ist um über 65’000 auf 407’000 gestiegen. Der Zuwachs entspricht etwa der Bevölkerung der Stadt Luzern.
Das Wachstum kommt zu mehr als drei Vierteln allein aus Frankreich: Hier stieg die Zahl der Pendler um 29 Prozent. Aus Deutschland kamen nur 11 und aus Italien 7 Prozent mehr. Im Kanton Tessin ist die Zahl der Grenzgänger im letzten Jahr sogar erstmals seit Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 zurückgegangen.
«Der Hauptgrund für den starken Anstieg der Grenzgänger aus Frankreich ist letztlich die Kombination von Attraktivität der Region und Wohnungsnot», sagt Marco Schmid. Er ist Ökonom bei der Immobilienberatungsgesellschaft Wüest Partner in Zürich und hat das Thema in seiner Dissertation eingehend untersucht.
Boom und Wohnungsnot
Die Wirtschaft hat sich in der Schweiz deutlich besser entwickelt als im westlichen Nachbarland. Der Arbeitsmarkt in der Genferseeregion boomt. Aber während die Zahl der Beschäftigten seit Jahren überdurchschnittlich steigt, werden nur wenige Wohnungen gebaut. Die Leerwohnungsziffer im Kanton Genf liegt bei sehr tiefen 0,46 Prozent.
Im grenznahen Frankreich wurden in den letzten Jahren jedoch sehr viele neue Wohnungen gebaut. Die durchschnittlichen Wohnkosten sind dort nach wie vor etwa um die Hälfte tiefer als in Genf, stellt Schmid fest.
Die Bruttolöhne sind im Kanton Genf dagegen mehr als doppelt so hoch wie im grenznahen Frankreich. Und die Kaufkraft dieser Löhne ist in Frankreich höher. Nicht nur sind Nahrungsmittel und Konsumgüter meist billiger als in der Schweiz. Wer in Schweizer Franken bezahlt, profitiert zusätzlich von der starken Aufwertung gegenüber dem Euro. Bis 2023 profitierten Grenzgänger zudem von deutlich günstigeren Krankenversicherungsprämien.
Mit der Liberalisierung der Homeoffice-Regeln wurde das französische Grenzgebiet für Erwerbstätige in der Genfernseeregion noch attraktiver. Sie dürfen bis zu 40 Prozent ihrer Arbeitszeit im Homeoffice leisten.
Der entscheidende Faktor war jedoch der Bau des Léman Express, der grenzüberschreitenden S-Bahn, wie Schmid zeigt. Vor der Lancierung standen die Pendlerinnen und Pendler mit ihren Autos regelmässig im Stau. Dann hat der bequeme Léman Express die Reisezeit zwischen Annemasse und dem Genfer Hauptbahnhof Cornavin gegenüber der früheren Busverbindung von einer Dreiviertelstunde auf 23 Minuten halbiert und die Verbindungshäufigkeit verdreifacht. Mit dem Auto benötigt man im Schnitt knapp 40 Minuten.
Mittlerweile nutzen den Léman Express täglich rund 70’000 Pendlerinnen und Pendler. «Die S-Bahn hat in der Nähe von Haltestellen einen Bauboom ausgelöst und die Attraktivität des Grenzgängertums in der Region nochmals verstärkt», stellt Schmid fest.
Wie attraktiv das Pendeln über die Grenze geworden ist, zeigen die Zahlen. In den fünf Jahren von 2014 bis 2019 stieg die Zahl der Grenzgänger aus Frankreich in die Genferseeregion um jährlich 3,7 Prozent. Seit dem Start des Léman Express im Jahr 2020 wächst sie mit jährlich 6,6 Prozent fast doppelt so schnell.
Die prekäre Wohnungsknappheit in Genf tut ein Übriges. Die strenge Mietregulierung erschwert Neubauten und Sanierungen sowie die Verdichtung des Wohnungsangebots und verschärft den akuten Wohnungsmangel. «Auch in Zukunft dürfte ein Grossteil des Bevölkerungswachstums auf der französischen Seite der Grenze stattfinden», sagt Schmid.
Der Anteil der Grenzgänger an den Beschäftigten ist in der Genferseeregion traditionell hoch. Mit der jüngsten Entwicklung hat er jedoch nochmals deutlich zugelegt. Im Kanton Genf machten die Grenzgänger 2011 20 Prozent der Beschäftigten aus. Heute sind es mehr als 28 Prozent.
Nicht mitgezählt sind dabei Erwerbstätige mit Schweizer Pass und Doppelbürger, die in Frankreich wohnen, aber in Genf arbeiten. Denn sie benötigen keine Bewilligung und werden deshalb in der Grenzgängerstatistik nicht erfasst.
Marco Schmid untersuchte anhand einzelner französischer Orte, woher die Neuzuzüger von 2017 bis 2019 kamen. Mit 60 Prozent der grösste Teil waren Zuzüge aus umliegenden französischen Regionen. 23 Prozent kamen aus dem übrigen Frankreich, 17 Prozent aus dem Ausland und 9 Prozent aus der Schweiz.
Schweizer denken ans Auswandern
Zählt man die in Frankreich wohnhaften Schweizer Staatsangehörigen dazu, kommt heute bereits etwa jede dritte Erwerbsperson in Genf von ennet der Grenze.
Dieser Anteil dürfte weiter zunehmen, wie eine im März durchgeführte repräsentative Umfrage des Vergleichsdienstes Comparis in der Westschweiz zeigt. Demnach haben sich 30 Prozent der Befragten schon überlegt, als Grenzgänger nach Frankreich zu ziehen, und könnten sich damit anfreunden. 5 Prozent der Befragten seien schon aktiv auf der Suche nach einer Immobilie in Frankreich. Die wichtigsten Motive sind die tieferen Lebenshaltungskosten und die günstigeren Wohnungsmieten oder Hauspreise.
Das Wachstum bei den Grenzgängern gefällt nicht allen. Die migrationskritische Genfer Partei Mouvement Citoyens Genevois sammelt derzeit Unterschriften für eine Begrenzung. Nur Schweizer oder Einwohner des Kantons sollen künftig wichtige Stellen der öffentlichen Hand besetzen dürfen, zum Beispiel bei der Polizei, Gerichten oder der Finanzverwaltung.
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