Urteil zu Menschenrechten Schweiz verbietet Geflüchteten den Familiennachzug – Rüge aus Strassburg
Die Schweiz hat die Menschenrechtskonvention verletzt, weil sie Geflüchteten aus finanziellen Gründen das Leben als Familie verweigerte. Was bedeutet das nun?
Er verdient weniger als 4000 Franken im Monat, obwohl er Vollzeit in einem Pflegeheim arbeitet. Deshalb muss der 46-jährige Tibeter J.K. ohne seine Familie leben: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) lehnte sein Gesuch um Familiennachzug ab. Seine Frau und die beiden Kinder durften nicht in die Schweiz einreisen.
Der Grund: Die Familie wäre von Sozialhilfe abhängig. Nach Berechnungen der Behörden würde die Familie über ein Monatseinkommen von lediglich 3577 Franken verfügen. Die Ausgaben aber würden sich auf 4777 Franken belaufen.
J.K. argumentierte, er werde mit seiner Familie im Kanton Uri sparsam leben, sodass der Fehlbetrag nur 312 Franken im Monat betrüge. Ausserdem sei seine Frau willens, so rasch wie möglich zu arbeiten. Doch das Bundesverwaltungsgericht wies seine Beschwerde 2017 ab. J.K. habe im Budget keine Kosten für Möbel und für die Hausratsversicherung eingerechnet, hielt das Gericht fest. Auch dürften Gesundheitskosten anfallen, zumal die Frau an Epilepsie leide. Ob sie rasch arbeiten könnte, sei ungewiss.
Rüge aus Strassburg
Nun hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit dem Fall befasst. Sein Urteil: Die Schweiz hat die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt, in diesem Fall und in zwei weiteren Fällen. In der Konvention steht, dass jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens hat. Das Urteil wurde vor kurzem veröffentlicht.
Betroffen sind vorläufig aufgenommene Flüchtlinge. Es handelt sich dabei um Personen, deren Flüchtlingseigenschaft anerkannt wird, die aber kein Asyl erhalten, weil es erst durch die Flucht zur Gefährdung kam. Diese Personen erhalten einen F-Ausweis (vorläufig aufgenommen) – wie Kriegsgeflüchtete und andere Personen, die nicht ins Herkunftsland zurückgeschickt werden können. Eine Schweizer Eigenheit.
Für vorläufig Aufgenommene gelten strenge Regeln. Im Gesetz steht, dass sie frühestens nach drei Jahren ein Gesuch um Familiennachzug stellen dürfen. Diese Frist muss die Schweiz jedoch verkürzen – ebenfalls wegen eines Urteils aus Strassburg. Das jüngste Urteil rückt nun eine andere Bedingung in den Fokus: Der Familiennachzug ist laut Schweizer Gesetz nur möglich, wenn die Familie nicht auf Sozialhilfe angewiesen ist. Das Parlament hatte dies 2005 beschlossen.
Muss die Schweiz nun das Gesetz anpassen? Oder die Praxis? Falls ja: Wie und für wen genau?
Kein Ausschlusskriterium
Das Staatssekretariat für Migration schreibt, es werde das Urteil eingehend analysieren und die entsprechenden Konsequenzen daraus ableiten. Klar ist, dass gemäss EGMR Sozialhilfeabhängigkeit beim Entscheid durchaus eine Rolle spielen darf – aber nicht in dem Sinne, dass der Familiennachzug ausgeschlossen ist. Die Strassburger Richter pochen lediglich auf eine sorgfältige Interessenabwägung im Einzelfall.
Die Beschwerde einer Person, die sich nie darum bemühte, selbst für ihren Unterhalt aufzukommen, lehnte der EGMR ab. Gutgeheissen hat er dagegen – neben der Beschwerde von J.K. – die Beschwerden einer arbeitsunfähigen Person sowie einer Person, die Teilzeit arbeitet und sich daneben um drei Kinder kümmert. Ihnen allen wurde der Familiennachzug laut EGMR zu Unrecht verwehrt.
Schon heute können die Umstände der Sozialhilfeabhängigkeit berücksichtigt werden. Das SEM schreibt, jede staatliche Handlung müsse verhältnismässig sein, so auch – insbesondere – die Einschränkung des Grundrechts auf ein Familienleben. Der Familiennachzug werde dann abgelehnt, wenn dies als verhältnismässig erachtet werde.
«Es ist ein sehr klares Urteil»
Doch Flüchtlingsorganisationen und Asylanwälte sagen, das Kriterium der Sozialhilfeabhängigkeit werde heute sehr strikt angewandt. Es handle sich um einen der häufigsten Gründe dafür, dass Gesuche um Familiennachzug abgelehnt würden. Eine Statistik dazu gibt es nicht.
Stephanie Motz, Völkerrechtlerin und Migrationsrechtsanwältin, geht davon aus, dass das Urteil Folgen haben wird. «Es ist ein sehr klares Urteil», sagt sie. Im Wesentlichen besage es, dass der Familiennachzug nur dann verweigert werden dürfe, wenn sich jemand nicht darum bemühe, für den Unterhalt seiner Familie aufzukommen. «Die Schweiz wird ihre Praxis anpassen müssen.»
«Der EGMR macht mit diesem Urteil einmal mehr deutlich, dass trotz strikter Kriterien jeder Fall einzeln beurteilt werden muss.»
Die Expertin misst dem Urteil eine weitreichende Bedeutung zu. «Das Parlament beschneidet regelmässig die Rechte von vorläufig Aufgenommenen und stellt dabei politische Interessen in den Vordergrund. Gleichzeitig sind aber die elementarsten Grundrechte der Geflüchteten betroffen, wie hier das Recht, mit seiner engsten Familie zusammenzuleben.» Der Menschenrechtsgerichtshof mache mit diesem Urteil einmal mehr deutlich, dass trotz strikter Kriterien jeder Fall einzeln beurteilt werden müsse. «Sonst werden die Menschenrechte verletzt», sagt Motz.
Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe begrüsst das Urteil. Es zeige, dass die Kriterien in der Schweiz zu streng seien – und dass die Schweiz die individuellen Umstände der Geflüchteten stärker berücksichtigen müsse. Die Flüchtlingshilfe fordert, dass die Praxis nicht nur für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge geändert wird, sondern für alle vorläufig Aufgenommenen. Die Behörden müssten sämtliche Gesuche um Familiennachzug differenzierter prüfen.
Bundesgericht nicht zuständig
Der EGMR hat die Schweiz in den vergangenen Jahren auch wegen anderer asylrechtlicher Entscheide gerügt. So hielten die Strassburger Richter 2020 fest, die Schweiz habe ungenügend abgeklärt, ob ein Gambier bei der Wegweisung ins Heimatland wegen seiner Homosexualität gefährdet wäre.
2019 verurteilte der EGMR die Schweiz, weil sie einen zum Christentum konvertierten Afghanen der Ethnie Hazara wegweisen wollte. Das Bundesverwaltungsgericht war in beiden Fällen zum Schluss gekommen, die Betroffenen hätten die Möglichkeit, ihre Sexualität beziehungsweise ihren Glauben zu verheimlichen. Der EGMR liess diese Argumentation nicht gelten.
Dass solche Fälle vor den EGMR gelangen, liegt auch an den Rechtswegen in der Schweiz: Asylrechtliche Entscheide können nicht bis vors oberste Gericht – das Bundesgericht – weitergezogen werden. Das Bundesverwaltungsgericht ist die einzige gerichtliche Instanz, die Entscheide der Behörden überprüft. Allenfalls wäre es sinnvoll, dies zu überdenken, stellte ein am Bundesverwaltungsgericht tätiger Richter nach dem jüngsten Urteil auf der Plattform Linkedin fest.
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