Endspurt bei VerhandlungenKommt die EU der Schweiz entgegen?
Die EU zieht offenbar wegen der Stimmung in der Schweiz Konzessionen bei der Zuwanderung in Betracht. Einzelheiten werden nun an einem Treffen in Bern besprochen.

- Aussenminister Ignazio Cassis bespricht mit EU-Vizekommissionspräsident Maros Sevcovic die letzten umstrittenen Punkte.
- Diskutiert werden Fragen zu Personenfreizügigkeit, Stromabkommen und Kohäsionsbeitrag.
- Die EU hält mit Blick auf die politische Stimmung in der Schweiz einen Kompromiss bei der Schutzklausel für nötig, wie einem Protokoll zu entnehmen ist.
- Der letzte Knackpunkt ist der Preis für den Binnenmarktzutritt.
Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU sind auf der Zielgeraden. Für Mittwochabend ist ein hochrangiges Treffen angesagt: Aussenminister Ignazio Cassis empfängt EU-Vizekommissionspräsident Maros Sefcovic auf dem Landgut Lohn bei Bern.
Nach einem Gespräch unter vier Augen steht ein Essen auf dem Programm, an dem auch der Schweizer Chefunterhändler Patric Franzen sowie die Staatssekretärinnen Helene Budliger und Christine Schraner Burgener teilnehmen. Auf EU-Seite reist neben Sefcovic unter anderen Chefunterhändler Richard Szostak an.
Diskutiert werden dem Vernehmen nach offene Fragen zur Personenfreizügigkeit, dem Stromabkommen und dem Kohäsionsbeitrag der Schweiz. Die Feinarbeit auf technischer Ebene soll in den nächsten Wochen abgeschlossen werden.
Geht alles nach Plan, wird der Bundesrat noch im Dezember über das Verhandlungspaket entscheiden. Auch ein Mini-Gipfel zwischen Bundespräsidentin Viola Amherd und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch vor Weihnachten ist angedacht. Als kleines Zugeständnis an die Schweiz könnte der krönende Abschluss nicht in Brüssel, sondern in Bern gefeiert werden.
Doch zuerst muss man sich einig werden.
Worüber Cassis und Sefcovic am Mittwoch sprechen:
Die Personenfreizügigkeit
Die EU gewährt der Schweiz Ausnahmen, um eine Zuwanderung ins Sozialsystem zu verhindern. Darauf hatten sich die Schweiz und die EU schon in den Sondierungsgesprächen geeinigt. EU-Bürger erhalten demnach nur dann nach fünf Jahren ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht, wenn sie ohne Unterbrechung gearbeitet und keine Sozialhilfe bezogen haben. Ausserdem sind weiterhin Ausschaffungen von kriminellen EU-Bürgern gemäss der Ausschaffungsinitiative möglich.
In den Verhandlungen bemühte sich die Schweiz zusätzlich um eine Schutzklausel, die sie eigenständig aktivieren könnte: Sie wollte definieren, ab welcher Schwelle sie Massnahmen zur Begrenzung der Zuwanderung ergreifen dürfte. Eine unilaterale Schutzklausel lehnt die EU indes kategorisch ab. Zur Diskussion steht nun eine Präzisierung der heutigen Formulierung im Personenfreizügigkeitsabkommen, wonach der gemischte Ausschuss bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» Massnahmen prüft.
Die EU-Kommission hält inzwischen mit Blick auf die politische Stimmung in der Schweiz einen Kompromiss für nötig, wie einem Protokoll zur Vorbereitung des Besuchs in der Schweiz zu entnehmen ist. Diskutiert werde aktuell eine Lösung, die auch einen Auslöse- und Streitbeilegungsmechanismus enthalte. Die Schutzklausel könnte aber nur gemeinsam aktiviert werden. Im Gegenzug wäre die Schweiz bereit, auf höhere Studiengebühren für ausländische Studierende zu verzichten.
Das Stromabkommen
Hier gab es zuletzt noch offene Fragen zu den Kompetenzen der Regulierungsbehörden und zu den Beihilfen. Die Schweiz wollte die Subventionskontrolle kantonal regeln, doch nun könnte – wie beim Land- und Luftverkehr – die eidgenössische Wettbewerbskommission zuständig sein. In der EU-Kommission wundert man sich, dass es in der Schweiz anders als in der EU keine unabhängige Überwachungsbehörde gibt. Strittig sind zudem die geplanten Subventionen für Reservekraftwerke. Diese staatlich finanzierte Winterreserve ist aus Brüsseler Sicht wettbewerbsverzerrend.
Offene Fragen gibt es noch bei den Übergangsfristen für die Langzeitverträge mit französischen Atomkraftbetreibern. Frankreich pocht auf angemessene Ausgleichszahlungen, während Deutschland vor Marktverzerrung warnt. Geklärt ist, dass die Schweiz die Liberalisierungsschritte der EU (weitgehend) sowie das sogenannte Strommarktdesign übernimmt und den Strommarkt ganz öffnet.
Ein Zugeständnis der EU ist die Wahlfreiheit: Haushalte sollen in der Grundversorgung bleiben oder den Stromlieferanten frei wählen können. Im Gegenzug bekommt die Schweiz gleichberechtigten Zugang zum Strombinnenmarkt der EU mit seinen Handelsplattformen. Experten versprechen sich davon grössere Versorgungssicherheit und längerfristig auch Einsparungen.
Das Preisschild
Über das Geld wird ganz am Ende entschieden. Der Bundesrat hat sich hier zum Ärger der EU-Kommission bis zuletzt bedeckt gehalten. Einig ist man sich nur, dass die Schweiz anders als bisher regelmässig, lückenlos und vorhersehbar ihren Kohäsionsbeitrag zahlt. Aus Sicht der Schweiz war der Beitrag bisher freiwillig. Für die EU war die Zahlung schon immer der Preis für den gleichberechtigten Zugang zum Binnenmarkt.
Bei der Höhe will sich die EU-Kommission am Beispiel des EWR/Efta-Mitglieds Norwegen orientieren, das jährlich 450 Millionen Euro bezahlt – dreimal mehr als die Schweiz bisher bezahlte. Der Bundesrat dürfte in der Endrunde auf einen Rabatt pochen, da die Schweiz anders als Norwegen nur einen sektoriellen Zugang zum Binnenmarkt hat. Der Schweizer Kohäsionsbetrag könnte am Ende irgendwo zwischen 300 und 400 Millionen Euro jährlich liegen.
Neben den drei Knackpunkten gibt es weitere offene Fragen, die aber auf technischer Ebene gelöst werden können. So will die Schweiz im Luftverkehr Personenbeförderungsrechte. Praktisch ausgeräumt sind die Differenzen beim Abkommen über technische Handelshemmnisse, beim geplanten Gesundheitsabkommen und der Lebensmittelsicherheit. Einig geworden ist man sich auch bei den sogenannten institutionellen Fragen mit der Streitschlichtung und der Rolle des Europäischen Gerichtshofs, an denen das Rahmenabkommen einst gescheitert war.
Wie es weitergeht
Heissen die EU und der Bundesrat das Verhandlungsresultat im Dezember gut, ist das Parlament am Zug. Dort wird bereits darüber diskutiert, wie der Bundesrat das Paket den Räten vorlegen soll. Die Aussenpolitische Kommission des Ständerates (APK) möchte, dass das Parlament möglichst viel Spielraum hat, einzelne Elemente abzulehnen. Sie fordert, dass National- und Ständerat über die drei neuen Abkommen zu Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit gesondert befinden können. Diese seien nicht Teil des «Basispakets» mit den fünf bestehenden Binnenmarktabkommen, argumentiert die APK. Hintergrund scheint die Befürchtung zu sein, dass das Stromabkommen alles zu Fall bringen könnte.
So oder so wird die parlamentarische Arbeit viel Zeit in Anspruch nehmen, da auch umfangreiche Anpassungen im Schweizer Recht geplant sind. Mit einer Volksabstimmung wird nicht vor 2028 gerechnet.
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