EU-Parlamentarier im Interview «Ich bin gespannt, ob die Schweizer Politik standhaft bleibt»
Andreas Schwab ist für die Beziehungen zur Schweiz zuständig. Der Deutsche fragt sich vor dem Neustart der bilateralen Verhandlungen, ob der Bundesrat den Mut zum Deal hat.
Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens könnten die Schweiz und die EU bald einen neuen Anlauf nehmen. Klappt es diesmal?
Ich bin da vorsichtig. Ich habe diesen jahrelangen Prozess der Verhandlungen, des Verhandlungsabbruchs und der endlosen Sondierungen zwischen der EU-Kommission und dem Bundesrat verfolgt, sodass ich negative Überraschungen nicht ausschliesse.
Das klingt jetzt aber pessimistisch.
Wir sollten uns jetzt an die Arbeit machen und möglichst schnell mit den Verhandlungen beginnen. Ich hoffe, dass der Bundesrat diesen Freitag den Mandatsentwurf verabschiedet. Dann wird die Kommission zügig voranmachen. Aufseiten der Mitgliedsstaaten wird es keine massgeblichen Probleme geben bei der Bestätigung des neuen Verhandlungsmandats.
Die Verhandlungen sollen ja bis zu den Europawahlen oder zumindest zum Ende des Mandats der EU-Kommission im Herbst abgeschlossen werden …
… und dann geht es darum, möglichst schnell zu unterschreiben. Ich glaube allerdings, dass der innenpolitische Druck in der Schweiz ein möglichst schnelles Unterschreiben nicht so einfach erlauben wird. Ich bin gespannt, ob die Schweizer Politik diesmal gegenüber Kritikern standhaft bleibt oder wieder ein Grund für Aufschub entsteht.
Das heisst, Sie zweifeln am Fahrplan. Wieso sollte es mit einem Abschluss bis zur Europawahl oder bis zum Ende der Amtszeit von Ursula von der Leyen nicht klappen?
Der Fahrplan ist realistisch, wenn die Schweizer Seite ab März zur Unterschrift bereitsteht. Aber wir haben jetzt 15 Jahre die Probleme vor uns hergeschoben. Es würde mich nicht überraschen, wenn in der Schweiz wieder etwas dazwischenkommt.
Aber im März sollen ja die Verhandlungen erst anfangen.
Erst im März zu beginnen, ist sehr spät, denn die Europawahlen sind am 9. Juni. Es ist sehr ambitioniert, innerhalb von drei Monaten Verhandlungen zu beginnen und abzuschliessen. Der Schweizer Konsultationsprozess sollte daher bestenfalls vor Ende Februar abgeschlossen sein. Die Kommission kann sicherlich bis September entscheiden, aber es wäre besser, nicht bis zum letzten Moment zu warten. Eine neue Kommission ist vor 2025 nicht voll handlungsfähig.
Der Bundesrat hat sich in einem Schreiben an die Kommission vom Ergebnis der Sondierungen distanziert, ein schlechtes Vorzeichen für die Verhandlungen?
Bei den Sondierungen sind ja die wesentlichen EU-Regeln festgehalten worden, die in den Verhandlungen über das Paket mit den institutionellen Fragen und den neuen Abkommen zu Strom oder Gesundheit nicht mehr über den Haufen geworfen werden können. Es ist unerheblich, wie das vom Bundesrat nun kommentiert wird. Wir können das EU-Recht nicht für das Abkommen mit der Schweiz ändern.
«Man wird sicherlich noch mal einen Halbsatz hinzufügen und zwei Wörter streichen können.»
Es kann doch nicht sein, dass vor Verhandlungen das Ergebnis schon feststehen soll.
Man wird sicherlich noch mal einen Halbsatz hinzufügen und zwei Wörter streichen können. Aber dass man sozusagen jetzt wo ganz anders anfängt, das wird nicht gehen. Alles andere würde ja auch die Arbeiten, die wir in den vergangenen Jahren geführt haben, ad absurdum führen. Beide Seiten haben ihre Argumente gut platziert. Das Ergebnis der gemeinsamen Erklärung ist ein ausgewogener Kompromiss, ein Korridor, der durch das EU-Recht und die Schweizer Wünsche bestimmt ist. Aus meiner Sicht macht es wenig Sinn, jetzt von roten Linien zu sprechen.
Also gar kein Spielraum?
Die EU-Kommission hat sich schon für einige Kompromisse breitschlagen lassen, zum Beispiel bei der Anmeldefrist für entsandte Arbeitskräfte. Die soll zwar von acht auf vier Tage reduziert werden. Im Binnenmarkt sind aber eigentlich keine Anmeldefristen vorgesehen. Umso mehr müssen in Zukunft die Kontrollen in der Schweiz verhältnismässig sein.
Die Gewerkschaften und Sozialdemokraten kritisieren, die Schweiz sei der EU beim Lohnschutz schon zu weit entgegengekommen, und fordern Korrekturen.
Ich verstehe die Gewerkschaften an diesem Punkt nicht. Wir sind uns einig, dass die Rechte der Arbeitnehmer geschützt und sichergestellt werden muss, dass es keine Schwarzarbeit gibt. Das Prinzip vom gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort gilt auch bei uns. Dass ausländische Betriebe in die Schweiz fahren, um Verstösse gegen Schweizer Recht vorzunehmen, das würde ich ausschliessen.
Das hohe Schweizer Lohnniveau erfordert doch einen besonderen Schutz.
Der hohe Lohn ist sicherlich verlockend. Aber die Schweiz weiss auch, dass sie auf die Arbeitskräfte angewiesen ist, um wettbewerbsfähig zu bleiben und viele Stellen im Dienstleistungssektor zu besetzen. Und Europa ist eben dieser friedliche Kontinent, wo die Menschen entscheiden können, wo sie arbeiten und leben wollen. Diese Freiheit wollen wir auch den Menschen auf beiden Seiten der Schweizer Grenze sichern.
Die Zuwanderung wird doch auch in der EU zunehmend kritisch gesehen. In den Niederlanden will Wahlsieger Geert Wilders die Personenfreizügigkeit überhaupt abschaffen.
Das stimmt. Allerdings zeigt das Wahlergebnis in den Niederlanden auch, dass viele Menschen dort Abstiegsängste haben. Es geht uns gut in Europa, und viele haben Angst, dass es schlechter werden könnte. Diese Ängste werden derzeit auf das Thema Migration projiziert, wo wir im Mittelmeer noch immer keine echte Kontrolle haben. Generell brauchen wir aber Zuwanderung, um unser Wohlstandsniveau halten zu können.
Die EU kann doch kein Interesse haben, die Zustimmung für die Personenfreizügigkeit in der Schweiz mit einer dogmatischen Haltung zu gefährden …
Die EU hat ein Interesse an einer exzellenten Beziehung zur Schweiz, wirtschaftlich, sozial, politisch. Die Interessen der Schweiz definiert der Bundesrat, unter Kontrolle des Parlaments und des Volkes. Schweizer Unternehmen haben gleichberechtigten Zugang zum Binnenmarkt. Was wir wollen, ist Fairness in beide Richtungen.
Ob in den Niederlanden oder in der Schweiz, die Probleme sind doch real. Wohnraum wird immer teurer, Autobahnen und Züge sind voll.
Dass die Züge in der Schweiz voll sind, spricht für die Bahn in der Schweiz. Grundsätzlich ist die Schweizer Ebene ein sehr attraktiver Wirtschaftsstandort, und diese Attraktivität sichert den Wohlstand. Deshalb will der Schweizer Bundesrat die exzellente Zusammenarbeit mit der EU ja auch weiterführen und vertiefen.
Verteidigen Sie nicht einfach die Interessen der Handwerker und anderen Dienstleister in Ihrem Wahlkreis an der Schweizer Grenze?
Klar, es gibt im Einzugsgebiet von Basel sehr engagierte Handwerker, die sich immer wieder beklagen, dass die Kontrollen in der Schweiz einfach zu kompliziert sind. Mir geht es aber vor allem darum, die Regeln im Binnenmarkt durchzusetzen. Wir können diese Regeln nicht einseitig wegen der Schweizer Gewerkschaften ändern. Wir müssen sie in der Schweiz ebenso verteidigen wie in Deutschland oder gegenüber Frankreich und Italien.
Die Schweiz soll auch die EU-Spesenregelung für entsandte Arbeitskräfte übernehmen. Das öffnet doch wieder die Tür für Sozialdumping.
Ich denke, für diese Frage werden wir eine akzeptable Lösung finden. Übrigens sorgt die Spesenregelung trotz unterschiedlicher Lohnniveaus innerhalb der EU für keine Probleme. Die Sorgen der schweizerischen Gewerkschaften sind daher etwas weit hergeholt. Aber noch einmal: Niemand möchte, dass der Schweizer Lohn deswegen unter Druck kommt.
EU-Botschafter Petros Mavromichalis sagt in einem Interview pauschal, die flankierenden Massnahmen in der Schweiz seien rechtswidrig. Das ist nicht sehr diplomatisch.
Sie stehen im Widerspruch zum EU-Recht, klar. Eine Voranmeldung für Dienstleister ist eben zum Beispiel im Binnenmarkt nicht vorgesehen. Das kann man heute mit künstlicher Intelligenz und digitaler Anmeldung viel besser hinbekommen als mit einer Voranmeldung. Diese Kontrollen müssen europaweit verbessert werden.
Hat es sich für die Schweiz unter dem Strich gelohnt, das Rahmenabkommen nicht zu unterzeichnen? Immerhin musste die EU dem Paketansatz mit neuen Abkommen zustimmen.
Also ich freue mich, wenn wir am Ende ein Abkommen haben. Und wenn die Schweiz sagt, es ist besser, wir lösen die institutionellen Fragen wie die Streitschlichtung oder die dynamische Rechtsübernahme vertikal in jedem Marktzugangsabkommen einzeln und nicht horizontal für alle gleichermassen, dann freue ich mich auch. Ich bin mir nicht sicher, ob in der Sache der Unterschied gross ist, aber darauf kommt es auch gar nicht an.
Beim Europäischen Gerichtshof als Streitschlichter letzter Instanz hat sich die EU durchgesetzt …
… Jean-Claude Juncker hat sich durchgesetzt. Entgegen dem Rat seiner eigenen Leute hat der damalige Kommissionspräsident das Schiedsgericht ins Spiel gebracht, das dem EuGH vorgelagert ist und in den meisten Fällen entscheidet. Die Schweiz wird immer die Wahl haben, dem Urteil des Schiedsgerichts zu folgen oder Ausgleichsmassnahmen zu akzeptieren.
«Die Schweiz sollte sich beim Wettbewerb auf der Schiene nicht fürchten.»
Ein kritischer Punkt ist die Öffnung des Schweizer Schienenverkehrs für die Konkurrenz. Will die EU deswegen die Verhandlungen scheitern lassen?
Die Schweiz sollte sich beim Wettbewerb auf der Schiene nicht fürchten. Wenn Pünktlichkeit der Massstab ist, wird die Schweiz jede Menge Ausnahmen für sich selber in Anwendung bringen können. Unpünktliche Züge dürfen auf dem Schweizer Schienennetz gar nicht verkehren.
Wie schnell können die Forschenden in der Schweiz beim EU-Forschungsprogramm Horizon Europe wieder voll mitmachen?
Sobald wir ein Mandat haben. Aber es ist kein Freifahrschein für die nächsten zehn Jahre. Vorgesehen ist eine Beteiligung vorerst für ein Jahr, die verlängert wird, vorausgesetzt, die Verhandlungen über das Paket führen zu einem Erfolg.
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