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Abgang von Chefunterhändlerin Livia Leu
«Ein Debakel für die Verhandlungen mit der EU»

Staatssekretärin Livia Leu, hier an der Medienkonferenz am 10. Mai, wird im September als Botschafterin nach Berlin wechseln.
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Livia Leu verlässt ihre wichtige Funktion als Staatssekretärin im Aussendepartement sowie als Chefunterhändlerin mit der EU. Sie wird im September Botschafterin in Berlin. Der Bundesrat teilte dies im Anschluss an seine Sitzung vom Mittwoch mit und bestätigt damit einen Artikel dieser Zeitung.

Am Nachmittag trat Leu im Bundeshaus vor die Medien. Sie bezeichnete dabei den Zeitpunkt ihres Wechsels als passend: «Meine Aufgabe ist es, die Sondierungen zu beenden. Das Resultat ist dann eine Basis für ein Verhandlungsmandat.» 

«Wir sind es in der Diplomatie gewohnt, dass die Personen regelmässig wechseln.» 

Livia Leu, Staatssekretärin EDA

Sondierungen und Verhandlungen seien nicht dasselbe, sagte sie weiter. Bis zu ihrem Wechsel bleibe noch Zeit, um die verbleibenden Aufgaben zu erledigen. Sondierungen würden selten in der gleichen Zusammensetzung angegangen wie die eigentlichen Verhandlungen, sagte Leu. «Wir sind es in der Diplomatie gewohnt, dass die Personen regelmässig wechseln.» 

Hohe Hürden bleiben

Zuvor hatte der Bundesrat mitgeteilt, die Sondierungen im Hinblick auf ein neues Verhandlungsmandat seien so weit vorangekommen, dass der Bundesrat Ende Juni über die Eckwerte eines Verhandlungsmandats mit der EU befinden werde.

Wie diese Eckwerte allerdings aussehen, ist offen. Klar sind hingegen die hohen Hürden, die das wichtigste aussenpolitische Dossier seit Jahren prägen: Die Schweiz muss sich nach Vorstellung der EU zu einer dynamischen Rechtsübernahme verpflichten, und zwar in jenen Bereichen, in denen sie Zugang zu den EU-Märkten hat. Zudem verlangt die EU eine verbindliche Streitschlichtung mit einem Schiedsgericht. Dabei hätte der Europäische Gerichtshof das letzte Wort.

Von «Debakel» bis «Chance»

Teils kritisch fallen die Reaktionen auf Leus Abgang aus. SP-Nationalrat Eric Nussbaumer bezeichnet die Demission Leus «als Debakel für das Verhandlungsdossier mit der EU». Er wirft dem Bundesrat vor, «im ganzen Prozess eine zögerliche bis bremsende Rolle» zu spielen. 

Nussbaumer fordert nun einen klaren Zeitplan: Die Sondierungsgespräche müssten nach der nächsten Runde am 30. Mai abgeschlossen werden, und bis Ende Juni müsse der Bundesrat ein neues Verhandlungsmandat vorlegen. Es sei «zwingend erforderlich», dass die formellen Verhandlungen spätestens im Sommer 2024 abgeschlossen werden und somit vor der Neubesetzung der Europäischen Kommission.

«Der Bundesrat muss nun endlich Ergebnisse für die institutionellen Fragen liefern. Der Preis des Stillstands ist zu hoch.»

Tiana Angelina Moser, GLP-Nationalrätin

Nationalrätin Tiana Angelina Moser (GLP) erhebt klare Forderungen an den Bundesrat. Die zahlreichen Personalwechsel der letzten Jahre im Europadossier seien nicht hilfreich für eine rasche Klärung der offenen Fragen. «Der Bundesrat muss nun endlich Ergebnisse für die institutionellen Fragen liefern. Der Preis des Stillstands ist zu hoch», sagt sie. 

«Bei näherem Betrachten ist jetzt aber der richtige Zeitpunkt für einen Rücktritt, wenn Frau Leu gehen will», so SVP-Nationalrat Franz Grütter.

Der Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, Franz Grütter (SVP), sagt hingegen, der Rücktritt komme für ihn unerwartet. «Bei näherem Betrachten ist jetzt aber der richtige Zeitpunkt für einen Rücktritt, wenn Frau Leu gehen will.» Denn mit dem Start der eigentlichen Verhandlungen beginne jetzt womöglich eine neue schwierige Etappe. Gleichzeitig lobt Grütter die scheidende Staatssekretärin. Sie habe die Verhandlungslage stets realistisch eingeschätzt. Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter sagt: «Im Hinblick auf Verhandlungen mit der EU kann ein Wechsel auch eine Chance sein.»

FDP-Ständerat Damian Müller zeigt «grosses Verständnis, dass die Vollblut-Diplomatin nun am Ende der Karriere noch auf eine Botschaft will». Das Dossier werde dadurch keinen Schaden nehmen. Gefragt sei nun «eine Person, die Führungsanspruch, Leistungsbereitschaft und Durchsetzungsvermögen hat».

Brüssel will keine Verzögerung

In Brüssel sagte ein EU-Sprecher, die Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen nehme den Abgang zur Kenntnis und gratuliere der Staatssekretärin für die bisherige Arbeit bei den Sondierungen.

Der deutsche EU-Abgeordnete und Schweiz-Experte Andreas Schwab sagte, er wünsche Livia Leu alles Gute in ihrem neuen Job. Er hoffe, dass Livia Leu auf ihrem neuen Posten in Deutschland «konstruktiver arbeiten kann und darf».

Andreas Schwab, EU-Abgeordneter und Schweiz-Experte, wünscht Livia Leu alles Gute im neuen Job.

Die wichtigste Frage ist: Erwartet Brüssel wegen des überraschenden Abgangs auf Schweizer Seite nun Verzögerungen bei den Verhandlungen?

Auch auf EU-Seite geht man davon aus, die Sondierungen Ende Juni abschliessen zu können.

Beobachter verweisen darauf, dass auch bei den Brexit-Verhandlungen die Briten mehrmals ihren Verhandlungsführer ausgetauscht hätten. Livia Leu sei ja bis August noch im Amt, sagte der Kommissionssprecher. Auch auf EU-Seite geht man davon aus, die Sondierungen Ende Juni abschliessen zu können. Ein Treffen auf politischer Ebene zwischen Bundesrat Ignazio Cassis und EU-Kommissionsvize Maros Sefcovic sei dann wahrscheinlich. 

Allerdings gibt es bis dahin noch viel zu tun. Der Entwurf einer gemeinsamen Erklärung mit den Eckwerten für die künftigen Verhandlungen wird zwar seit fünf Monaten diskutiert. Aber noch immer sind wichtige Punkte offen. So insbesondere bei der Personenfreizügigkeit und der Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der Streitschlichtung. Bei den Staatsbeihilfen und einem geplanten Durchsetzungsmechanismus ist man sich im Grundsatz einig.

Umstrittene Punkte

Umstritten ist, ob neben Strom und Luftverkehr auch der Landverkehr und das öffentliche Beschaffungswesen von den strikten Auflagen zu Subventionen erfasst werden sollen. Das Ziel bleibe, allfällige Verhandlungen bis im Juni 2024 rechtzeitig vor dem Ende der Amtszeit der EU-Kommission und der Europawahl zu beenden, heisst es in Brüssel.

Laut EU-Diplomaten hat Livia Leu bei den letzten Sondierungen signalisiert, dass der Bundesrat die Zustimmung des Parlaments zum Mandat erst nach den eidgenössischen Wahlen im Oktober einholen will.

Gegenüber Diplomaten der Mitgliedsstaaten bezeichnete ein Kommissionsvertreter diesen Zeitplan als «schwierig». Denn so würden nur noch sechs Monate für echte Verhandlungen bis zum Ende der Amtszeit der Kommission von Ursula von der Leyen bleiben. Anders als die Schweiz geht die EU davon aus, die Verhandlungen auf der Basis des alten Mandats vom Rahmenabkommen wieder aufnehmen zu können.

Wer folgt auf Leu?

Offen bleibt, wer Livia Leu als Staatssekretärin und EU-Chefunterhändlerin ablösen soll. Der Bundesrat setzt eine Findungskommission ein. Als möglicher Nachfolger wird in Bern der 61-jährige Freiburger Alexandre Fasel gehandelt. Fasel ist ehemaliger Botschafter in London und heute «Sonderbeauftragter für Science Diplomacy». Jürg Lauber, derzeit Botschaft bei der UNO in Genf, ist ebenfalls ein Name, der zu hören ist, und schliesslich wäre wohl auch die 53-jährige Botschafterin Rita Adam, die derzeit bei der EU in Brüssel stationiert ist, eine valable Nachfolgekandidatin.