Kommentar zum RücktrittWarum Livia Leu scheitern musste
Die abtretende Chefdiplomatin hat die Hoffnungen auf einen europapolitischen Durchbruch nicht erfüllen können. Aussenminister Ignazio Cassis sollte die richtigen Schlüsse ziehen.
Es gibt Posten in der Verwaltung, die mit Leim bestrichen scheinen: Oft sind sie jahrzehntelang von ein und derselben Person besetzt. Und dann gibt es das Gegenteil, die Schleudersitze. Zu letzterer Kategorie gehört die Chefunterhändlerin im Europadossier. In den letzten zehn Jahren wechselte die Besetzung viermal. Und auch die derzeitige Amtsinhaberin Livia Leu hört jetzt auf, wie unsere Zeitung am Dienstag publik machte und der Bundesrat am Mittwoch bestätigte: Die 62-Jährige geht im Herbst als Botschafterin nach Berlin.
Der Abgang ist in gewissem Sinn folgerichtig. Livia Leu ist nicht nur seit zweieinhalb Jahren die mächtigste Diplomatin der Schweiz. Sie ist vor allem auch das Produkt eines Irrtums.
Die «Methode Leu» brachte die Schweiz einer Lösung keinen Schritt näher.
Es handelt sich um jenen Irrtum, der über Jahre die Schweizer Europapolitik prägte und bis heute in den Köpfen festsitzt: Wer demnach mit der Europäischen Union (EU) nur hart und smart genug verhandelt, kann ihr jedes Zugeständnis abringen. Dieser Irrglaube war es, der Leus Vorgänger Roberto Balzaretti im Herbst 2020 das Amt kostete. Das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU lag damals als Entwurf vor, doch Parteien und Verbände murrten: Der Text sei unbefriedigend, man möge bitte schön «nachverhandeln». Balzaretti indes hatte das Verhandlungsergebnis bereits öffentlich beworben – und sich damit in den Augen der Kritiker für künftige Gespräche disqualifiziert. Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) setzte schliesslich Leu an die Stelle von Balzaretti. Die Neue, europapolitisch unbelastet, sollte in Brüssel herausschlagen, was ihrem vermeintlich zu nachgiebigen Vorgänger versagt blieb.
Die Naivität dieser Hoffnungen liegt inzwischen allzu deutlich bloss. Leus kühlerer Auftritt, ihre engere Anbindung an die (gefühlte/behauptete) europaskeptische Mehrheit im Land, ihr Beschweigen eigener Ziele und Positionen: Es brachte die Schweiz einer Lösung keinen Schritt näher. Vor zwei Jahren wischte der Bundesrat das Rahmenabkommen offiziell vom Tisch. Inzwischen ist man zwar wieder bei «Sondierungsgesprächen» angelangt, irgendwann sollen echte Verhandlungen daraus werden. Doch die Dilemmata bleiben dieselben: Die EU will gegenüber der Schweiz bestimmte Grundprinzipien ihres Binnenmarkts durchsetzen, und der Bundesrat schafft es nicht, die für Kompromisse nötigen innenpolitischen Mehrheiten zu organisieren.
Die fehlende personelle Kontinuität auf dem Posten der zuständigen Chefunterhändlerin ist dabei nicht hilfreich. Die ständigen Wechsel schaffen einerseits Probleme (Verlust von Know-how) und sind andererseits selber Symptom des beschriebenen Problems. Dieses wird im Fall von Livia Leu durch eine menschliche Komponente verschärft. Mit ihrem Chef Cassis soll sie sich nicht gut verstanden haben. Zudem hat sie als Staatssekretärin im Aussendepartement verglichen mit ihren Vorgängern einen massiv erweiterten Zuständigkeitsbereich. Neben den Beziehungen zur EU obliegen ihr so heikle Dossiers wie die Russland- und die Iran-Politik. Eine Person allein kann das realistischerweise gar nicht schaffen.
Cassis sollte Leus Demission zu einer kritischen Analyse dieser Strukturen nutzen. Vielleicht ist es angezeigt, dass Leus Nachfolgerin oder Nachfolger wieder voll auf Europa fokussieren kann. Damit sich ein Debakel wie beim Rahmenabkommen nicht wiederholt.
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