Bandenkriminalität in SchwedenDie Kindersoldaten, die in Dänemark morden
Seit einigen Monaten rekrutieren dänische Banden gezielt schwedische Jugendliche für Auftragsmorde und andere schwere Delikte. Drohen Dänemark jetzt «schwedische Verhältnisse»?
Wer in den vergangenen Wochen im Zug über die Öresundbrücke gefahren ist, die das südschwedische Malmö mit der dänischen Hauptstadt Kopenhagen verbindet, dem wird aufgefallen sein, wie viel Polizisten und Grenzbeamte plötzlich in den Zügen unterwegs sind.
Und in Kopenhagen gibt es neuerdings Gebiete, in denen die Polizei immer wieder auf offener Strasse Autos und Passanten durchsucht, ohne dass sie dafür Gründe nennen müsste. Mit diesen und anderen Massnahmen versuchen die beiden Nachbarländer, eine neue Art der grenzüberschreitenden Kriminalität in den Griff zu bekommen: Seit einigen Monaten rekrutieren dänische Banden gezielt schwedische Jugendliche für Auftragsmorde und andere schwere Delikte.
Anfang August schlug der dänische Justizminister Peter Hummelgaard Alarm, als er sagte, dass es allein seit April 25 Fälle gegeben habe, in denen «Kindersoldaten» aus Schweden angeheuert worden seien, um in Dänemark Verbrechen zu begehen. Es gab Schiessereien auf offener Strasse, die Täter waren 16 und 17. Eine Bombe wurde in einen Kiosk geworfen, ein Bub wurde mit zwei Granaten von der Polizei aufgegriffen. Zehn Schweden wurden seit Anfang Januar verhaftet und wegen versuchten Mordes oder Waffenbesitzes angeklagt.
Kopfschuss auf Telegram für 44’000 Franken ausgeschrieben
Die meisten dieser oftmals minderjährigen Täter werden über den verschlüsselten Messengerdienst Telegram rekrutiert, es gibt dort so etwas wie schwarze Bretter, an denen für verschiedene Verbrechen – Bombenwerfen, Vandalismus, Mord – feste Honorare versprochen werden.
Auf einer solchen Liste, die dem schwedischen Sender TV2 vorlag, wurden für einen «Kopfschuss» 500’000 schwedische Kronen (knapp 44’000 Franken) geboten. Um Schlüsselwörter, nach denen Algorithmen suchen können, zu vermeiden, werden anscheinend auch Symbole und Emojis verwendet, so steht ein Apfel angeblich für eine Handgranate, eine Wasserspritzpistole für einen Auftragsmord.
In Schweden ist diese zynische Rekrutierungstaktik schon etwas länger verbreitet: So gab die Stockholmer Staatsanwaltschaft vor einigen Tagen bekannt, dass 93 Kinder unter 15 Jahren verdächtigt werden, im vergangenen Jahr in Schweden an Mordplänen beteiligt gewesen zu sein. Die schwedische Polizei schätzt nun, dass 700 junge Schweden potenziell Gefahr laufen, in Dänemark für Straftaten rekrutiert zu werden.
Am Mittwoch trafen sich deshalb die schwedischen und dänischen Justizminister und Polizeichefs, um die gemeinsamen Anstrengungen gegen diese grenzübergreifende Kriminalität weiter zu intensivieren. Man wolle «stark und koordiniert» reagieren, sagte Hummelgaard, und sein schwedischer Kollege Gunnar Strömmer ergänzte, man werde in einem «historischen» Taktikwechsel gegen «schwere Gewalt» vorgehen und sich dabei von der dänischen Anti-Gang-Gesetzgebung inspirieren lassen: «Das bedeutet dreierlei: hartes Durchgreifen gegen die Gewalt, den Kriminellen ihre wirtschaftliche Grundlage entziehen und die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen unterbinden», sagte er.
Die Chefin der schwedischen Landespolizei, Petra Lundh, sagte, dass gerade die Zahl der Täter unter 15 Jahren in den letzten Monaten stark gestiegen sei. Strömmer kündigte an, Schweden werde seine Jugendstrafgesetzgebung verschärfen. In Schweden kommen Jugendliche unter 18 Jahren bei Morden im Regelfall nicht ins Gefängnis, sondern für drei bis fünf Jahre Jahre in Jugendstrafanstalten. Hummelgaard gab verschiedenen schwedischen Medien in den vergangenen Wochen Interviews, um klarzumachen, dass in Dänemark in solchen Fällen bis zu sechzehn Jahre Haft drohen.
Gangs terrorisieren Migranten-Viertel
Beide Minister fügten noch hinzu, man werde die Zusammenarbeit mit Drittländern intensivieren, schliesslich, so Hummelgaard, würden sich die eigentlichen Hintermänner «unter einem wärmeren Himmel» verstecken. Das war eine Anspielung auf den schwedischen Bandenführer Ismail Abdo, Spitzname «Jordgubben», deutsch «Erdbeere», der sich vor einiger Zeit in die Türkei abgesetzt haben soll. Von dort kontrolliert er gemäss schwedischen Medien einen grossen Teil des schwedischen und auch des dänischen Haschischmarktes.
Angeblich soll ihm dabei in letzter Zeit die dänische Loyal to Familia (LTF) in die Quere gekommen sein, eine Gang, die seit ihrer Gründung 2013 in einem vorwiegend von Migranten bewohnten Viertel von der dänischen Polizei für viele tödliche Schiessereien und Drogenkriminalität im grossen Stil verantwortlich gemacht wird. LTF wurde zwar 2018 verboten, umfasst aber wohl immer noch weit über 100 Mitglieder.
Dänen fürchten «schwedische Verhältnisse»
Für die Polizei ist es aus zweierlei Gründen extrem schwierig, präventiv tätig zu werden. Zum einen liegen zwischen dem Auftrag und der versuchten oder tatsächlich ausgeführten Tat oft nur wenige Stunden. Zum anderen sind viele Täter bislang unbescholtene Jugendliche, die sich einfach übers Netz rekrutieren lassen, aber der Polizei bislang unbekannt sind.
Nun fürchten die Dänen «schwedische Verhältnisse», ein Ausdruck, der in den vergangenen Jahren in allen nördlichen Nachbarländern Schwedens zur stehenden Wendung wurde und jeweils ausufernde Bandenkriege meint. In Schweden werden jährlich mehr als 300 Schiessereien registriert. Im jüngsten Bandenkrieg zwischen Ismail Abdos Vasallen und der Gang seines ehemaligen Chefs starben im vergangenen Jahr mindesten zwölf Menschen, es wurden dabei auch massive Bombenanschläge verübt, die gar nicht mehr den eigentlichen Kriminellen, sondern deren Verwandten oder Nachbarn galten.
Staat zieht sich aus Problemvierteln zurück
Der Begriff von den «schwedischen Verhältnissen» hat sich in Dänemark, Norwegen und Finnland längst zu einer Angst-Chiffre verfestigt, die eine norwegische Linguistin in einer eigenen Untersuchung so definierte: «‹Schwedische Verhältnisse› ist ein Bild von etwas, das an einem anderen Ort passiert, etwas, von dem man sich distanzieren kann, eine Art Albtraumzustand.» Umso unheimlicher, wenn die «schwedischen Verhältnisse» nun doch nach Dänemark herüberzuschwappen scheinen.
In der dänischen Zeitung «Politiken» meldete sich nach der Pressekonferenz der beiden Justizminister der Soziologe Aydin Soei zu Wort, der mehrere Bücher über Bandenkriminalität geschrieben hat, und gab zu bedenken, dass Schweden nicht nur repressiver gegen die Gangs vorgehen solle, sondern sehr viel mehr Geld und politischen Willen in Präventionsmassnahmen stecken müsse.
Dänemark gebe insbesondere in sozial schwachen Vierteln «viele Ressourcen für Bildung und Berufsberatung sowie Freizeitarbeitsprojekte aus, bei denen man jungen Menschen bei der Arbeit und im Freizeitleben hilft». Der schwedische Staat habe sich dagegen aus den Problemvierteln zurückgezogen und überlasse die jungen Menschen sich selbst.
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