Bandenkriminalität in Schweden «Die letzten 24 Stunden übersteigen das Schlimmste, was man sich vorstellen kann»
Mehrere Schiessereien, zwei explodierte Sprengladungen und drei Tote in nur einer Nacht: Schweden hat ein gewaltiges Problem mit kriminellen Gangs. Nun soll das Militär helfen.
Mittwochabend um 18.45 in Mälarhojden, einem beschaulichen Vorort im Süden von Stockholm. Auf der Sportanlage hatten gerade mehrere Jugendteams Training, als aus einem vorbeifahrenden Toyota das Feuer eröffnet wurde; ein 18-Jähriger starb. Um Mitternacht kam im Vorort Jordbro ein anderer 18-Jähriger bei einer Schiesserei um, zwei Männer wurden verletzt. Nachts um vier explodierte dann in einem Vorort von Uppsala eine Sprengladung, die zwei Häuser komplett zerstörte. Eine junge Frau starb.
Dreifrontenkrieg zwischen rivalisierenden Drogengangs
Die Nachrichten über Schiessereien, Tote und Bandengewalt bilden in Schweden ein derart permanentes Hintergrundrauschen, dass man es, ähnlich wie bei einem Tinnitus, irgendwann ausblendet. Aber drei Tote in einer Nacht, dazu die Verwüstungsbilder aus Uppsala, die eher an Bürgerkriegsszenen erinnern als an rivalisierende Drogenclans – «die letzten 24 Stunden übersteigen das Schlimmste, was man sich in einer anständigen Gesellschaft vorstellen kann», sagte Justizminister Gunnar Strömmer am Donnerstagmorgen. Am Abend kündigte Premierminister Ulf Kristersson an, er werde das Militär zur Bekämpfung der Banden einbinden.
Grund für die Eskalation ist ein Dreifrontenkrieg zwischen rivalisierenden Drogengangs, in dessen Zentrum Rawa Majid steht, der in Schweden unter seinem selbst gewählten Spitznamen «kurdischer Fuchs» mittlerweile bekannter ist als jeder Popstar. Der Vergleich mag zynisch klingen, aber ein Polizist aus Järva sagte im Fernsehen, er wisse von vielen Kindern und Jugendlichen, die den Banden ihre Dienste als Mörder anböten, schliesslich stärke so ein Attentat innerhalb dieser Gruppen den Status enorm.
Majid war in Uppsala in den Drogenhandel involviert. Nach einer langjährigen Gefängnisstrafe verschwand er 2018 aus Schweden, erst in den Irak, später in die Türkei, wo er sich als Reeder ausgab und so die türkische Staatsbürgerschaft erwarb. Seither soll er von dort aus seine mörderischen Anweisungen geben. Die Türkei weigert sich, ihn auszuliefern, obwohl er auch von Interpol gesucht wird.
Allein im September starben elf Menschen, darunter auch ein 13-jähriger Junge.
Es geht bei den Attentaten einerseits um die üblichen Verteilungskämpfe zwischen Drogenkartellen, andererseits scheint eine interne Rachedynamik zu eskalieren: Ismail Abdo, einer seiner ehemaligen Kumpane, hat sich von Majids sogenannter Foxtrot-Vereinigung getrennt und eine eigene Gang gegründet. Anfang September wurde Abdos Mutter erschossen. Kurz darauf wurde ein Haus in Stenhagen beschossen, in dessen Nähe Majids Schwiegermutter lebt. Anscheinend hatten die Attentäter die falsche Adresse, was durchaus typisch ist. Laut der Zeitung «Dagens Nyheter» waren allein in diesem Jahr weit über 100 Aussenstehende von der Gewalt betroffen, sei es, dass ihre Hausfassaden beschossen oder mit Sprengsätzen beworfen wurden, sei es, dass sie bei Schiessereien aus Versehen verletzt oder getötet wurden.
Auch die 25-Jährige, die in Uppsala starb, hatte wohl nichts mit den Gangs zu tun. Allein im September starben elf Menschen, darunter auch ein 13-jähriger Junge. Anders Thornberg, Chef der schwedischen Polizei, sprach davon, dass gezielt 13- und 14-Jährige mit Mordaufträgen losgeschickt würden, weil sie noch nicht strafmündig seien.
«Konzentrieren Sie sich bitte auf Lösungen!»
Magnus Jacobsson, der für die Christdemokraten im Reichstag sitzt, twitterte am Donnerstagnachmittag: «Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir, die wir in der Politik auf der rechten Seite stehen, uns für die Rhetorik entschuldigen, die wir in der Vergangenheit verwendet haben, und demütig alle Parteien, Behörden, betroffenen Gemeinden und Forscher zu einem bescheidenen Gespräch darüber einladen, was wir gemeinsam tun können, um das Töten zu beenden.»
Jacobsson bezog sich dabei auf die jahrelangen Schuldzuweisungen der konservativen Parteien den Sozialdemokraten gegenüber, diese hätten zu lange weggeschaut. Ein Stockholmer Polizist fasste die Stimmung vieler Schweden in seiner Antwort gut zusammen: «Das ist der absolut richtige Ansatz. Ich finde es so furchtbar ermüdend mit den sinnlosen Anschuldigungen, wer politisch schuld ist, die beide Seiten erheben. Konzentrieren Sie sich bitte auf Lösungen!»
Premier kündigt härtere Strafen an
Premierminister Kristersson kündigte unbeeindruckt davon härtere Strafen an, auch bei Waffen- und Sprengstoffdelikten. Ausserdem versprach er, sich mit dem Chef der Landespolizei und dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte zu treffen, «um zu sehen, wie die Streitkräfte die Polizei bei ihrer Arbeit gegen die kriminellen Banden unterstützen können».
Es hatte den Anschein, als wolle Kristersson, der Vorsitzender der liberal-konservativen Moderaten ist, bei den Stammwählern der xenophoben Schwedendemokraten punkten, als er die langjährige «unverantwortliche Einwanderungspolitik» anprangerte und damit Jimmie Åkesson, den Vorsitzenden der Schwedendemokraten, zitierte.
Die Frage ist nun, inwieweit das Militär der Polizei bei deren Arbeit helfen könnte. Anders Thornberg, der Chef der schwedischen Polizei, betonte am Freitag, es gehe nicht darum, die Streitkräfte mit direkten Aufgaben zur Verbrechensbekämpfung vor Ort einzusetzen. Vielmehr hoffe man auf Unterstützung der Polizei bei Überwachungsmissionen und Hilfe bei Logistik, Fahrzeugen und Ausrüstung.
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