Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Brisante Dokumente
Schüttelzüge von Bombardier: SBB-Chefs waren frühzeitig gewarnt

Abfahrt des Fernverkehrs-Doppelstockzugs FV-Dosto im Zuercher Hauptbahnhof am Mittwoch, 1. Mai 2019. (KEYSTONE/Walter Bieri)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk
In Kürze:
  • Nach jahrelangen Problemen wollen die SBB die Bombardier-Doppelstockzüge auf eigene Kosten umbauen.
  • Ein interner Bericht empfahl bereits 2014, aus der Beschaffung auszusteigen.
  • Die Konzernleitung ignorierte diese frühen Warnungen.
  • Ein Ausstieg wäre deutlich günstiger gewesen als ein Beharren auf dem Bombardier-Zug.

Als «Schüttelzug» ist er bei Passagieren und dem Personal gefürchtet: der Fernverkehr-Doppelstockzug des kanadischen Herstellers Bombardier. Teilweise rütteln die Wagen derart stark, dass es Pendlern und Zugbegleitern schlecht wird.

Diesen Sommer haben die SBB nach jahrelangen Problemen die Geduld verloren. Mitte August wurde bekannt, dass sie die Züge umbauen wollen – auf eigene Kosten. Denn die sogenannte Wankkompensation, die ein schnelles Fahren in den Kurven erlauben und somit ohne teure Infrastrukturbauten kürzere Reisezeiten zwischen grossen Städten ermöglichen sollte, funktionierte nie richtig.

Bereits im Juli 2022 verzichteten die SBB darum auf das sogenannte bogenschnelle Fahren. Nun soll die Wankkompensation ganz raus, weil der Fahrkomfort zu schlecht ist. Als Erstes baut Alstom, die vor drei Jahren das Zuggeschäft von Bombardier übernommen hat, einen Testzug mit einem neuen Drehgestell ohne Wankkompensation. Einzig für diesen Prototyp übernimmt Alstom die Kosten. Sollte er sich bewähren und danach bis Anfang der 2030er-Jahre die ganze Flotte umgebaut werden, würden die SBB bei allen weiteren 61 Zügen die Kosten tragen.

Vergangene Woche berichtete der «K-Tipp», das werde 250 Millionen Franken kosten. Die SBB weisen dies als «falsch und rein spekulativ» zurück. Zum aktuellen Zeitpunkt gingen sie «von wesentlich tieferen Kosten aus». Tatsache bleibt, dass Bombardier mangelhafte Züge geliefert hat – doch letztlich zahlen die SBB dafür, dass sie wieder richtig funktionieren.

Entweder geht das zulasten des Gewinns, der ohnehin zu klein ist, um die Investitionen für die Zukunft zu finanzieren. Oder die Kundinnen und Kunden zahlen die Zeche in Form höherer Billettpreise. Schlimmer noch: Für mehrere Milliarden Franken sollen die Strecken Bern–Lausanne und Winterthur–St. Margrethen neu gebaut werden, um die angestrebte Fahrzeitverkürzung ohne den Doppelstock-Fernverkehrszug zu erreichen.

Hochrangiger Fachmann riet zum Ausstieg

Nun zeigen mehrere Dokumente, die der SonntagsZeitung vorliegen, dass sich das Debakel rund um den teuersten SBB-Auftrag der Geschichte hätte vermeiden lassen, wenn die Konzernführung um den damaligen Konzernchef Andreas Meyer und die damalige Personenverkehr-Chefin Jeannine Pilloud auf warnende Stimmen gehört hätte.

Allen voran auf einen im Juni 2013 von den SBB eingesetzten Senior Claim Manager – also ein Beauftragter, um gegenüber Bombardier die vertraglichen Vereinbarungen durchzusetzen. Der Mann verfügte über langjährige Führungserfahrung in der Bahnbranche und hatte mehrere grosse Beschaffungen begleitet. Seine Einsetzung erfolgte, weil drei Jahre nach Unterzeichnung des Werklieferungsvertrags im Wert von 1,9 Milliarden Franken klar war, dass Bombardier schwerwiegende Probleme bei der Konstruktion und Fertigung der Züge hatte. Die vertraglich vereinbarte erste Lieferung wurde von Ende 2013 auf 2015 verschoben.

Anfang 2014 lieferte der Senior Claim Manager einen äusserst alarmierenden Statusbericht mit dem Vermerk «Vertraulich für den internen Gebrauch» ab. Darin hielt er fest, dass «die schlechte technische Reife des Projekts zu diesem Zeitpunkt ohne Vorbild» sei. «Die vorliegenden Pläne sind nicht reif genug, um auf deren Basis Materialbestellungen zu platzieren.» Dieser Umstand allein sei der Grund für die verspätete Lieferung der Züge – und nicht die zahlreichen nachträglich von den SBB gewünschten Änderungen.

Bombardier halte selbst einfachste Zusagen nicht ein. Sie habe noch nie einen Rückstand aufgeholt, sondern immer weiteren Rückstand erzeugt, und gegenüber den SBB keinen einzigen Terminplan eingehalten. Bereits im Juli 2013 habe er festgehalten, dass mit einem Einsatz einer Teilflotte von mindestens zehn qualifizierten Zügen ohne wesentliche Kinderkrankheiten nicht vor Dezember 2018 zu rechnen sei.

Eine rasche Verbesserung sei nicht zu erwarten – im Gegenteil sei «ein Worst Case für den Rest der Projektlaufzeit nicht auszuschliessen». Sprich: Die teuerste Beschaffung aller Zeiten könnte scheitern. «Mit dem heutigen Kenntnisstand muss die Option eines Totalausfalles in Form eines Default (Nichterbringung der Werklieferungsvertrag-Leistung in einem für die SBB verträglichen zeitlichen und finanziellen Rahmen) berücksichtigt werden.» Ein solches Scheitern sei «mit einer Wahrscheinlichkeit von bereits 40 Prozent zu erwarten».

Darum rät der Senior Claim Manager der SBB-Spitze, aus der Beschaffung auszusteigen und rechtzeitig Alternativen vorzubereiten. «Das Projekt braucht dringend ein Exitszenario», mitsamt eines Plan B für die Beschaffung anderer Züge. Im Übrigen kritisiert der Claim-Experte in seinem Statusbericht das Topkader um Meyer und Pilloud, das sich überraschend wenig um die grösste Beschaffung kümmere.

SBB-Spitze befürchtete hohe Schadenersatzforderungen

Obwohl sie vom Warnruf des Senior Claim Managers gewusst haben mussten, verschwiegen Andreas Meyer und Jeannine Pilloud dem Verwaltungsrat den Statusbericht. Das geht aus zwei Anträgen und Berichten vom 10. Januar und 25. Februar 2014 zuhanden der Verwaltungsratssitzung vom 11. März 2014 hervor, welche sie unterzeichnet hatten.

Darin beschreiben sie zwar die äusserst kritische Projektlage und schliessen auch einen «Projektausfall» nicht aus. Sie verheimlichen jedoch, dass ein von den SBB eingesetzter Senior Claim Manager zum Ausstieg aus dem Projekt rät. Stattdessen schreiben sie gestützt auf ein Gutachten der Anwaltskanzlei Bär & Karrer, ein Rücktritt der SBB aus dem Werklieferungsvertrag mit Bombardier komme aus rechtlichen Gründen nicht infrage. Denn es drohten hohe Schadenersatzforderungen.

Andreas Meyer, CEO SBB, informiert ueber die neusten Entwicklungen aus der Sicht des oeffentlichen Verkehrs in der Krise um die Pandemie des Coronavirus, am Donnerstag, 19. Maerz 2020 in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

Meyer und Pilloud geben sich gleichzeitig zuversichtlich, dass nach einem «Neustart» des Projekts mit nachverhandelten neuen Lieferfristen eine technische und kommerzielle Lösung gefunden werden kann – obwohl der Fachmann in seinem Statusbericht zu einem anderen Schluss kommt.

Erstaunlich ist, wie lange Meyer und Pilloud den Verwaltungsrat im Ungewissen über den Stand der strategisch wichtigen Beschaffung liessen. Aus den beiden Dokumenten geht hervor, dass sie den Verwaltungsrat zuletzt am 23. Oktober 2012 zum Projektstatus des Fernverkehr-Doppelstockzugs informiert hatten. Bis zu seiner Sitzung vom 11. März 2014 erfuhr er also von der Konzernleitung während fast eineinhalb Jahren nichts über die äusserst kritische Projektlage.

Fast gleichzeitig beschönigte Andreas Meyer gegenüber der Öffentlichkeit die Lage. In einem Interview mit dem «SonntagsBlick» vom 5. Januar 2014 wurde er gefragt: «Kann Hersteller Bombardier bis 2015 liefern?» Er antwortete: «Ich hoffe es, kann es aber nicht mit Sicherheit sagen.» Dabei geht aus dem Bericht und Antrag von Meyer und Pilloud vom 25. Februar 2014 an den Verwaltungsrat hervor, dass Bombardier die Lieferung des ersten Fahrzeugs erst für Mitte 2016 versprochen hatte.

Brisant ist ein weiteres Dokument, der öffentlich zugängliche dritte Statusbericht vom 6. Februar 2019. Darin heisst es, die SBB und Bombardier hätten vier verschiedene Arten von Meilensteinzahlungen vereinbart, darunter eine bei der Abnahme ohne die Wankkompensation und eine nach dem Nachweis der funktionierenden Wankkompensation im Betrieb. Das ist aussergewöhnlich und weist darauf hin, dass die SBB und Bombardier von Anfang an Zweifel hatten, dass die Wankkompensation je funktionieren würde.

Trotz absehbarer Lücke gab es keinen Plan B

Unter dem Strich lässt sich sagen: Hätten die SBB auf die frühen Warnungen gehört und damals die Übung abgebrochen, hätten sie schon längst einen funktionierenden Zug. Stattdessen wurden die ersten Bombardier-Züge 2018 in Betrieb genommen, und erst 2022 wurde der letzte Fernverkehr-Doppelstockzug abgeliefert. Voll funktionstüchtig ist er bis heute nicht – darum der teure Umbau.

Auf eine naheliegende Überbrückungsmöglichkeit wiesen interne Stimmen damals die SBB-Spitze hin: Und zwar hatten die SBB 2010 bei Stadler Rail 37 Doppelstock-Triebzüge des Typs Kiss für den Fernverkehr bestellt. Diese verkehren seit 2012 auf mehreren Interregio-Strecken. Zusätzliche dieser Züge hätten die Lücke, die durch die jahrelange Verspätung bei Bombardier entstanden war, teilweise stopfen können.

Doch die SBB-Spitze lehnte diesen Plan B ab. Erst 2018 – vier Jahre nach dem alarmierenden Statusbericht – kündigte sie an, 43 bestehende Kiss-Regionalzüge in Interregio-Züge umzubauen. Und erst 2021 bestellte sie bei Stadler Rail weitere 60 Interregio-Doppelstockzüge.

Die SBB nehmen zur Recherche nicht konkret Stellung. Eine Sprecherin schreibt lediglich, das Geschäft Fernverkehr-Doppelstockzug sei «wie jedes grosse Beschaffungsprojekt stets intensiv begleitet, Chancen und Risiken sorgfältig abgewogen» worden. Der Zug gehöre heute zu den zuverlässigsten Flotten der SBB und bilde das Rückgrat des Fernverkehrs in der Schweiz.

Andreas Meyer, der die SBB vom 1. Januar 2007 bis zum 31. März 2020 führte, schreibt, in keiner Phase sei der Stand des Projekts beschönigt worden – weder intern noch extern. Die einzelnen Bestandteile der von Bombardier eingesetzten Technologie seien damals als erprobt qualifiziert worden.

Meyer weist auch den Vorwurf zurück, sich zu wenig um die Beschaffung gekümmert zu haben. Das Projekt sei von allen Führungsebenen begleitet worden, je nach Projektphase. Wie bei allen grossen Beschaffungsprojekten seien auch beim Fernverkehr-Doppelstockzug externe Berater beigezogen worden. Es sei aber die Aufgabe der operativ verantwortlichen Projektleitung, deren Empfehlungen abzuwägen.

Portrait von Vincent Ducrot, CEO SBB, fotografiert am 21. September 2022 in Bern. (KEYSTONE/Remo Naegeli)

Ein Problem hat auch der aktuelle SBB-Chef Vincent Ducrot. Er hatte am 15. Juni 2010 als damaliger Leiter des Bereichs Fernverkehr den Vertrag mit Bombardier unterzeichnet.

Eine Schwäche des Vertrags, die Andreas Meyer und Jeannine Pilloud in ihren beiden Berichten von 2014 an den Verwaltungsrat einräumen, ist das fehlende vorzeitige Rücktrittsrecht der SBB vor der Lieferung – selbst wenn wichtige Meilensteine in einer frühen Projektphase zeitlich nicht eingehalten werden.

Darum warnten die Anwälte von Bär & Karrer vor hohen Schadenersatzforderungen von Bombardier. Weder die SBB noch Bombardier-Nachfolgerin Alstom wollen etwas zur möglichen Höhe des Schadenersatzes sagen. Gemäss der Rechtssprechung des Bundesgerichts muss die kündigende Partei jedoch nicht den gesamten vereinbarten Kaufpreis zahlen, sondern nur den tatsächlichen Schaden, also die aufgelaufenen Kosten und den Verlust, den der Kündigungsgegner erleidet, weil er im Vertrauen auf den Auftrag andere gewinnbringende Geschäfte ausgeschlagen hat.

Wenn überhaupt, dann hätten die SBB also höchstens mehrere Hundert Millionen Franken zahlen müssen, wenn sie auf den Rat des Senior Claim Managers gehört hätten – und keinesfalls 1,9 Milliarden Franken.